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Beerensommer

Beerensommer

Titel: Beerensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Barth-Grözinger
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dabei ist ihr Leben doch schon fast vorbei. So jedenfalls kommt es Anna vor.
    Von unten dringen die Geräusche aus der Pizzeria herauf. Gianni zieht die Rollläden hoch, um fünf Uhr öffnet er. Sicher würde es gleich klingeln und er würde mit einer Pizza oder einer Extraportion Rigatoni Napoli vor der Tür stehen.
    »Du musst essen, mia figlia, sonst macht sich deine Mama Sorgen da oben.« Anna muss unwillkürlich lächeln. Der gute Gianni, er hat vorhin so geweint auf dem Friedhof. Aber essen kann sie jetzt bestimmt nichts. Sie muss etwas tun, irgendetwas, um nicht verrückt zu werden. Ziellos streift sie im Zimmer herum.
    Plötzlich, ohne recht zu wissen warum, hockt sie vor der alten, dunkel gebeizten Kommode, die mit den komischen Löwenklauen-Füßchen, und wühlt in den Fächern. Ganz hinten sind die Fotoalben, die ganz alten, die ihr Mama manchmal gezeigt hat, als sie noch ein Kind war. Später wurden sie in die hinterste Ecke verbannt. Mama konnte und wollte sie scheinbar nicht mehr sehen.
    »Lass, Kind, ich möchte nicht daran erinnert werden, es war keine schöne Zeit.« Aber Anna hat sie oft heimlich angeschaut, wenn Mama nicht zu Hause war. Letztlich konnte sie wenig anfangen mit diesen alten Schwarz-Weiß-Fotos, auf denen die Personen so unnatürlich und steif posierten. Trotzdem übten die Fotografien immer einen eigentümlichen Zauber auf sie aus. Das kleine Mädchen da, das erkennt sie sofort, das war Mama, und der schlanke, fast hagere Mann ist Mutters Großvater gewesen.
    »Dein Uropa«, hat ihr Mama damals erklärt, und als Anna später mehr von ihm wissen wollte, hat sie unwillig das Album zugeklappt und kurz und bestimmt gesagt: »Er war ein komischer Mensch! Ein Spinner, haben die Leute gesagt, hat sich selber und anderen das Leben schwer gemacht. Deine Geburt hat er noch erlebt und sich sehr darüber gefreut. Vier Jahre später ist er gestorben. Schau –« Und sie hat ihr eines der neueren Bilder gezeigt, diesmal ein Farbfoto. Es zeigt diesen Mann, den Urgroßvater. Er hält ein schreiendes Baby auf dem Arm und schaut es seltsam entrückt und fast verklärt an. Anna hätte so gern mehr über diesen Urgroßvater gewusst. Warum ist er ein Spinner gewesen? Und was heißt das: »Sich und anderen das Leben schwer gemacht«?
    Und wer sind die anderen auf den Fotos? Die hübsche Frau beispielsweise mit den dunklen Augen, die immer so traurig aussieht? Es gibt noch eine andere, viel ältere, die ihr sehr ähnlich ist, die aber ein ganz altes und eingefallenes Gesicht hat. Auf vielen Bildern ist auch eine junge Frau abgebildet, von der Anna weiß, dass sie ihre Großmutter war, die ebenfalls Anna hieß. Sie sei früh gestorben, hat Mama einmal erzählt, und auch dass Anna ihr sehr ähnlich sehe. Es gibt noch einen Jungen auf einigen wenigen Fotos, den Anna ganz besonders mag. Er ist so hübsch mit seinen dunklen Locken und lächelt immer so freundlich in die Kamera. Seine Augen sind ebenfalls ganz traurig, aber er lacht voller Zuversicht. Anna hat nie ein Bild von ihm als Erwachsenem gefunden.
    Allerdings ist sie damals auch noch auf etwas anderes gestoßen, etwas, das ihr Mama auch nie erklärt hat. In eines der Alben ist ganz hinten ein Zeitungsausschnitt gesteckt worden. Er ist ganz vergilbt und die Kanten, an denen er zusammengefaltet gewesen ist, sind brüchig, sodass man dort die Buchstaben nicht mehr erkennen kann. Die Rede ist von einem »der erfolgreichsten Geschäftsmänner im süddeutschen Raum« und dabei steht auch ein Name: Friedrich Weckerlin. Dieser Friedrich Weckerlin ist auch abgebildet und Anna hat das Foto immer wieder interessiert betrachtet. Irgendwie erinnert sie der Mann an den Jungen mit den traurigen Augen und dem hoffnungsfrohen Lachen. Aber als sie die Mutter gefragt hat, warum der Zeitungsausschnitt in einem ihrer Fotoalben steckte und was es mit diesem Friedrich Weckerlin auf sich hatte, hat ihr Mama das Blatt jedes Mal schnell aus der Hand genommen und es wieder ganz hinten in das Album gelegt.
    »Ach das«, hat sie gesagt, als handle es sich um eine Sache und keine Person, und hat dabei eine wegwerfende Handbewegung gemacht. Dann hat sie das Album entschieden zugeklappt und nur dies geheimnisvolle »Ach das« ist zurückgeblieben und mit ihm Annas viele Fragen, die nie beantwortet worden sind.
    Viel später, beim letzten längeren Krankenhausaufenthalt der Mutter, hat Anna wieder angefangen Fragen zu stellen, als hätte sie geahnt, dass ihr die Zeit

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