Begegnung in Tiflis
Gelegenheit, endlich zu demonstrieren, wie fortschrittlich und den anderen Ländern weit überlegen nicht allein die sowjetische Medizin, sondern auch die grusinische Chirurgie ist! Es ist deshalb klar, daß keiner der Verletzten sterben darf! Wir verstehen uns? Danke, Genossen!«
Die Ärzte gingen stumm zu ihren Stationen. Wer Professor Semlakow kannte, der wußte, was diese Ansprache bedeutete. Ein Ausspruch Semlakows war geradezu klassisch geworden: »Ein sowjetischer Chirurg ist in der Lage, dem Teufel den Schwanz zu amputieren und ihn einem Engel zu transplantieren!« Und so wurde jeder der vierundzwanzig Verletzten von zwei Schwestern betreut und bekam an ärztlicher Pflege, was nur menschenmöglich war.
Der einzige, der nicht zufrieden war, war General Oronitse. Er hatte per Funk die Passagierliste aus Karatschi bekommen und die Zusatzliste aus Teheran. Beide lagen vor ihm auf der Schreibtischplatte, und Oberst Safon Kusmajewitsch Jassenskij, ein widerlicher Mensch, wie Oronitse fand, mit dünnem, asketischem Gesicht und abstehenden Ohren unter der Offiziersmütze, aber mit aller Macht der GRU ausgestattet, beugte sich über die Schulter des Generals.
Man muß wissen, was diese GRU ist, um zu verstehen, daß Oronitse den Oberst Jassenskij widerlich fand. GRU ist die sowjetische Abkürzung für das ›Hauptdirektorat für Nachrichtenwesen im Generalstab der Sowjetarmee‹, ein langes Wort, aber nüchtern betrachtet nichts anderes als die gefürchtete Spionageabwehr des sowjetischen Militärs. Die Männer der GRU, die auch die wichtige Kremlwache stellen, sind Soldaten wie alle anderen auch, aber ihre interne Macht in der Armee ist so groß, daß soldatenbewußte Männer wie etwa General Oronitse in Gegenwart eines GRU-Offiziers rote Ohren bekommen und einen höheren Blutdruck vor innerer Abwehr.
»Die Zahlen stimmen nicht«, sagte Oberst Jassenskij und tippte mit einem Finger, der braun von Tabakbeize war, auf die Passagierliste. »Einer fehlt!«
»Natürlich!« General Oronitse lehnte sich zurück. »Ich kann ja lesen, Genosse Safon Kusmajewitsch. Wir haben neunzehn Tote im Keller, vierundzwanzig Verletzte im Spital, macht zusammen dreiundvierzig! An Bord waren aber vierundvierzig! Neununddreißig Fluggäste und fünf Besatzungsmitglieder. Und um ganz klar zu sein: An den Uniformen haben wir die Besatzung identifiziert. Es fehlt eine Stewardeß.«
»Sind Sie sicher, Genosse General?« Oberst Jassenskij überlas noch einmal die Namen auf den Listen. »Es kann auch sein, daß die Stewardeß unter den Toten ist – wer kann an einer verkohlten Leiche noch erkennen, was sie trug? – und ein Passagier ist verschwunden?«
»Es kann, Safon Kusmajewitsch. Aber es ist nicht.« General Oronitse putzte sich die Nase. Der Mensch stinkt, dachte er. Er stinkt nach Arroganz und Überheblichkeit. »Alle Toten sind in einem, sagen wir es pietätlos, verhältnismäßig guten Zustand. Die meisten sind nicht verbrannt, sondern sind durch mechanische Einwirkung getötet worden. Drei an einem Herzschlag sogar. Der einzige Verbrannte ist ein Inder. Man kann also Ihre Theorie ausschließen. Es ist ganz klar: Es fehlt ein Mädchen.«
»Nervenschock? Lief weg und irrt herum …«
»Haben wir in Erwägung gezogen. Aber es irrt kein fremdes Mädchen lange durch Tiflis, ohne daß es nicht aufgesammelt wird. Das ist die große Frage: Wo ist das Mädchen?«
»Und warum ist sie weg?« Oberst Jassenskij tippte mit seinen unästhetischen Tabakfingern die Namen der Liste ab. »Wer ist es? Irene Heidfeld oder Bettina Wolter?«
»Das werden wir in einer Stunde wissen. Der Copilot Andresen ist vernehmungsfähig. Er wird uns genaue Angaben machen können. Fahren Sie mit ins Spital, Safon Kusmajewitsch?«
»Aber ja, Genosse General.« Das klang, als habe man Safon in das Gesäß getreten und dann gesagt: »Hei, was sind wir fröhlich, Brüderchen!« Wie kann man fragen, ob ein Oberst Jassenskij mitfahren will.
Im Grusinischen Krankenhaus Nr. I war Paul Andresen schon frisch verbunden worden und lag auf einem Rollbett im Verbandszimmer V, als Oronitse und Jassenskij eintraten. Seine Verletzung war verhältnismäßig leicht. Ein Beinbruch, eine Zertrümmerung der linken Kniescheibe und eine Kopfwunde mit einer Gehirnerschütterung. Sein Schädel brummte wie ein Bienenschwarm, aber daß er lebte, war für ihn so unfaßbar, daß er sich öfter aufrichtete und laut Hallo rief, nur um zu hören, daß er wirklich noch eine Stimme besaß und
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