Killerspiel
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Prolog
E r steht in einem Flur. Schon seit fast einer Stunde. Für viele wäre das die letzte Schikane, der Funke, der einen Flächenbrand auslöst: Grund genug, im Kopf ein ebenso wütendes Feuerwerk zu zünden wie jenes, das sie überhaupt erst hierhergebracht hat. Auf John Hunter hat es nicht diese Wirkung, und das keineswegs nur, weil er schon immer auf eine gewisse innere Gelassenheit zurückgreifen konnte oder weil das hier das Ende einer weit längeren Wartezeit ist. Ihm ist ganz einfach über die Jahre bewusst geworden, dass sich alle Erfahrungen mehr oder weniger gleichen. Also wartet er.
Der Flur ist in einem abstoßenden Beige gestrichen, das an ranzige Butter erinnert und vermutlich eine beruhigende Wirkung ausstrahlen soll. Für ihn wird dieser Ort für immer damit verbunden sein, genau wie mit dem Geruch nach Rost und den unendlichen Variationen und Mischungen aus dem Gestank von Männerschweiß. Man hat ihm angeboten, sich zu setzen. Respektvoll, aber ohne falsche Unterwürfigkeit – ein fein ausbalanciertes Auftreten, das er inzwischen bis zur Perfektion beherrscht – lehnt er dankend ab. Ob er im Stehen oder Sitzen wartet, läuft auf dasselbe hinaus, also bleibt er stehen.
Er empfindet nichts.
Schließlich geht eine Tür auf, und ein rauhbeinig wirkender, fülliger Mann in einem zerknitterten blauen Anzug tritt in den Flur.
»Tut mir leid, dass Sie warten mussten, John«, sagt er. Der Mann scheint abgespannt, aber Herr der Lage zu sein.
In seinem Büro sind Bücherregale, vollgestopft mit Akten und Werken über Kriminologie und Strafrechtstheorie. Ein Fenster bietet einen Ausblick auf den Hauptgefängnishof. Der Mann, dessen Name an der Tür steht, schaltet und waltet seit sieben Jahren von diesem Raum aus. Ihm ist es offenbar zu verdanken, dass sich die Haftbedingungen in diesem Zeitraum deutlich verbessert haben; darüber hinaus hat er vier vielbeachtete Untersuchungen anhand von sorgfältig erhobenen Messdaten veröffentlicht. Zugleich hat er deutlich Haare gelassen, so dass auf seiner Glatze große Muttermale zum Vorschein kommen.
Er setzt sich hinter den breiten Schreibtisch aus Holz. »Kleine Krise auf D«, murmelt er. »Fürs Erste abgewendet, zumindest so lange, bis die Götter des Chaos uns den nächsten Besuch abstatten. Ist vorprogrammiert. Bitte – nehmen Sie Platz.«
Hunter setzt sich auf einen der beiden großen Polsterstühle, die schräg vor dem Schreibtisch des Aufsichtsbeamten stehen. Er war schon einmal in diesem Büro. Auf dem Tisch befindet sich erwartungsgemäß ein Laptop, daneben liegen ein zur Hälfte beschriebener, linierter Block mit zwei Kugelschreibern sowie ein Handy in einem Lederetui mit Gürtelclip. Das ebenfalls dort stehende Foto von einer Frau mit drei Kindern wirkt derart unpersönlich, dass einen der Verdacht beschleicht, er habe es so, wie es ist, fertig gerahmt als Kulissenstaffage in einem Requisitenladen gekauft, um genau dem Stereotyp seiner Position zu entsprechen. Vielleicht ist er in Wahrheit außerhalb dieser vier Wände ein mit allen Wassern gewaschener Single, der sich nach Mitternacht in SM -Bars herumtreibt. Oder der Mann ist genau das, was er zu sein scheint. Soll schon vorgekommen sein.
Der Gefängnisdirektor verschränkt die Hände über dem Bauch und wirft dem Mann, der kerzengerade auf einem seiner Stühle sitzt, einen aufmunternden Blick zu. »So. Fühlen Sie sich gut?«
»Sehr gut, Sir.«
»Kein Wunder. War ’ne lange Zeit.«
Der Mann nickt. Im Stillen ist er davon überzeugt, dass keiner, der nicht selbst sechzehn Jahre gesessen hat, auch nur im Entferntesten nachvollziehen kann, wie lange eine solche Zeitspanne ist, doch er hält es nicht für zweckdienlich, die Diskussion in diese Richtung zu lenken. Im Zuge seiner drei vergeblichen Bewährungsanhörungen hat er eine Menge über zweckdienliche Diskussionen gelernt.
»Irgendwelche Fragen? Irgendwelche Befürchtungen?«
»Nein, Sir. Nicht, dass ich wüsste. Die Sitzungen mit dem Psychologen waren wirklich hilfreich.«
»Freut mich zu hören. Also, ich weiß ja, dass Ihnen das alles bekannt ist, aber ich muss Sie trotzdem fragen. Sie verstehen die Bewährungsauflagen zu Ihrer Haftentlassung, bla, bla, bla?«
»Ja, Sir.«
»Wollen uns ja nicht hier wiedersehen!«
»Bei allem Respekt, Sir, der Wunsch beruht auf Gegenseitigkeit.«
Der Direktor lacht. Irgendwie bedauert er es, diesen Gefangenen ziehen zu lassen. Er ist nicht der einzige gefügige Mann inmitten
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