Behandlungsfehler
»Rubrum«, die Bezeichnung der Parteien, aufgenommen wird? Ein kleiner Fehler hier, und schon sind Tür und Tor offen, um den Vergleich aus den Angeln heben zu können. Auch die Anwältin ist überfragt. Der Richter schlägt eine Formulierung vor, die Bestand hat. Dann ist die Verhandlung beendet.
Ich ziehe die Robe aus und packe sie mitsamt den Unterlagen in meine Aktentasche. Ich schalte das Handy wieder ein. Nebenbei plaudere ich ein wenig mit den Richtern. Diesmal über das neue Patientenrechtegesetz. Ich halte es aus juristischer Sicht nicht für notwendig. Aber politisch ist es sicher gewollt. Es ist ein gutes Gefühl zu spüren, dass die Richter ähnliche Vorbehalte hegen. Und: Solche kleinen Gespräche am Rande machen das Gericht für mich zu einem schönen, einem menschlichen Ort.
In der großen, von einem blauen Sternenzelt überwölbten Eingangshalle des Gerichts trennen sich dann die Wege. Die
Mandantin geht durch den Vordereingang hinaus. Nachdenklich. Auf der einen Seite macht das Geld vieles leichter. Auf der anderen Seite: Es macht nichts ungeschehen. Es macht die Stimme nicht wieder heil, es hält die Erstickungsanfälle nicht auf. Aber auf sich beruhen lassen wollte sie die Sache nicht. Es war ihr wichtig, den Schaden zu regulieren.
Sie zieht den Reißverschluss ihres Anoraks hoch und schreitet durch das altehrwürdige Portal. »Suum cuique« steht über der Tür, »jedem das Seine.« Preußens Wahlspruch, ein Prinzip, das auf Platon zurückgeht. Jeder soll das Seine tun, schreibt der Philosoph, und zwar so, wie es seinem Wesen, seinen Möglichkeiten und den individuellen Umständen entspricht. Auch der Arzt kann das Geschehene nicht wieder rückgängig machen. Aber er kann das Seine dafür tun, den Schaden zu regulieren.
In diesem Fall würde das die Versicherung für ihn übernehmen. Wir haben drei Wochen gewartet. Der Vergleich wurde nicht widerrufen. Meine Mandantin konnte die Angelegenheit abschließen und wieder nach vorn blicken.
Die Kehrseite des modernen Gesundheitssystems
Vor 30 Jahren wäre kaum ein Patient auf die Idee gekommen, gerichtlich gegen seinen Arzt vorzugehen. Es wurde einfach nicht hinterfragt, was er tat. Heute sind die Ansprüche der Patienten gewachsen. Wenn der Orthopäde sagt: »Wissen Sie, Frau Müller, wir sollten langsam einmal überlegen, ob wir die Hüfte nicht ersetzen«, geht Frau Müller zu einem anderen Orthopäden und holt eine zweite Meinung ein. Vermutlich googelt sie auch noch im Internet, um sich umfassend über die Operation zu informieren. Die Patienten sind skeptisch, sie pochen auf ihr Recht, sie sehen den Arzt als Dienstleister. Wenn Frau Müller sich in der Klinik eine neue Hüfte einsetzen lässt, dann muss das gut gehen. Und wenn sie danach nicht mehr hüpfen und springen kann, wenn sie nicht nach acht Tagen wieder auf dem Tennisplatz steht, dann hat sie das Gefühl, dass der Arzt etwas falsch gemacht hat. Sie hat doch einen Anspruch darauf, dass die neue Hüfte funktioniert. Sofort und einwandfrei. Sie hätte sich nie operieren lassen, wenn sie gewusst hätte, dass das auch anders laufen kann. Die Patienten sehen den ärztlichen Vertrag zunehmend als Garantievertrag und akzeptieren immer weniger, wenn die Behandlung nicht den gewünschten Erfolg hat.
Und weil das so ist, werde ich nicht arbeitslos.
Das Verhältnis zwischen Arzt und Patient früher und heute
Die Schwarzwaldklinik war einst eine meiner Lieblingsserien im Fernsehen. Sie wurde 1985 zum ersten Mal gesendet und lief über 70 Folgen hinweg auf den besten Sendeplätzen – und das nicht nur in Deutschland, sondern in 38 Ländern. Sie vermittelte das Bild einer heilen Welt, in der Ärzte und Patienten eng verbunden waren. Doch diese Welt war und ist Fiktion, heute noch viel mehr als damals. Schwester Hildegard im wahren Klinikalltag macht Feierabend, wenn die nächste Schicht kommt, statt im Ernstfall quasi rund um die Uhr bei ihren Patienten zu sein. Und
Professor Brinkmann kennt seine Patienten und deren Familien kaum, er weiß nicht, was für Sorgen, Ängste und Nöte sie plagen. Der Patient schneit auch nicht mal eben im Chefarztzimmer herein, sagt »Grüß Gott«und erzählt, was ihm wehtut. Die Distanz zwischen Arzt und Patient ist gewachsen.
Als ich klein war, gehörte unser Kinderarzt quasi mit zur Familie, er wurde – wie der Pfarrer – zur Taufe und zur Kommunion eingeladen. Da war ein Vetrauensverhältnis vorhanden, eine zwischenmenschliche Basis. Er war unser
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