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Bei Anbruch der Nacht

Titel: Bei Anbruch der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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gesamte Kollektion von ihm. Als Kind machte ich mal einen Kratzer in eine ihrer kostbaren Platten. Die Wohnung war so eng, und ein Junge in meinem Alter musste sich einfach ab und zu bewegen, vor allem in den kalten Monaten, wenn man nicht raus konnte. Deshalb hatte ich ein Spiel, ich sprang von unserem kleinen Sofa auf den Sessel, immer
wieder, aber einmal landete ich daneben und traf den Plattenspieler. Die Nadel schrammte mit einem Ratsch quer über die Platte – das war lang vor den CDs -, und meine Mutter kam aus der Küche herein und fing an, mich anzuschreien. Ich war sehr zerknirscht, weniger, weil sie mich anschrie, sondern weil es eine Tony-Gardner-Platte war und weil ich ja wusste, wie viel ihr die bedeutete. Und ich wusste, dass jetzt auch diese Platte bei jeder Umdrehung dieses knackende Geräusch von sich geben würde, während er seine amerikanischen Schmachtfetzen sang. Jahre später, als ich in Warschau arbeitete und mich auf dem Plattenschwarzmarkt auskannte, besorgte ich meiner Mutter Ersatz für alle ihre abgenudelten Tony-Gardner-Alben, auch für die Platte, die ich ruiniert hatte. Ich brauchte mehr als drei Jahre, aber ich gab nicht auf, beschaffte eine nach der anderen, und bei jedem Besuch brachte ich ihr wieder eine mit.
    Sie verstehen also, warum ich so aufgeregt wurde, als ich ihn keine sechs Meter von mir entfernt entdeckte. Zuerst traute ich meinen Augen nicht, und es kann sein, dass ich einen Akkordwechsel versiebte. Tony Gardner! Was hätte meine liebe Mutter gesagt, wenn sie das gewusst hätte! Um ihretwillen, um ihres Andenkens willen musste ich hingehen und etwas zu ihm sagen, auch wenn die Kollegen lachten und sagten, ich führe mich auf wie ein Hotelpage.
    Natürlich konnte ich nicht einfach zwischen Tischen und Stühlen hindurch auf ihn zumarschieren. Erst musste das Set zu Ende sein. Es war eine Qual, sage ich Ihnen, noch einmal drei, vier Nummern, und jede Sekunde dachte ich, jetzt steht er auf und geht. Aber er blieb sitzen, ganz allein, starrte in seinen Kaffee und rührte darin herum, als wäre er total erstaunt über das, was der Kellner ihm da gebracht hatte. Er sah
aus wie jeder andere amerikanische Tourist, in hellblauem Polohemd und weiten grauen Hosen. Seine Haare, sehr dunkel, sehr glänzend auf dem Plattencover, waren inzwischen fast weiß, aber sie waren noch immer sehr dicht und genauso tadellos frisiert wie damals. Als ich ihn entdeckte, hatte er seine Sonnenbrille in der Hand – ich bezweifle, dass ich ihn sonst erkannt hätte -, aber während der folgenden Stücke, bei denen ich ihn immer im Auge behielt, setzte er sie auf, nahm sie wieder ab, setzte sie wieder auf. Er wirkte geistesabwesend, und dass er unserer Musik gar nicht wirklich zuhörte, enttäuschte mich.
    Dann war unser Set vorbei, und ich stürzte unter dem Baldachin hervor, ohne was zu den anderen zu sagen, bahnte mir einen Weg zu Gardners Tisch und war einen Moment lang in Panik, weil ich nicht wusste, wie ich ein Gespräch anfangen sollte. Ich stand hinter ihm, aber irgendein sechster Sinn ließ ihn sich umdrehen und zu mir heraufsehen – wahrscheinlich kam das vom jahrzehntelangen Umgang mit Fans, die auf ihn zutraten -, und sofort stellte ich mich vor und erklärte, dass ich ihn sehr bewunderte, dass ich in der Band sei, die er gehört habe, dass meine Mutter ein große Bewunderin von ihm gewesen sei, das alles in einem einzigen langen Schwall. Er lauschte mit ernster Miene und nickte alle paar Sekunden, als wäre er mein Arzt. Ich plapperte weiter, und von ihm kam weiter nichts als ein gelegentliches »Ach ja?«. Nach einer Weile fand ich es an der Zeit zu gehen und wollte mich gerade entfernen, als er sagte:
    »Sie kommen also aus einem Ostblockland. Das muss hart gewesen sein.«
    »Ist alles Vergangenheit.« Ich zuckte munter die Achseln. »Jetzt sind wir ein freies Land. Eine Demokratie.«

    »Das freut mich zu hören. Und das war Ihre Truppe, die eben für uns gespielt hat. Setzen Sie sich doch. Möchten Sie einen Kaffee?«
    Ich sagte, ich wolle nicht aufdringlich sein, aber jetzt war etwas Freundlich-Bestimmtes an Mr Gardner. »Nein, nein, setzen Sie sich. Ihre Mutter hat meine Platten geliebt, sagten Sie.«
    Also setzte ich mich und erzählte weiter. Von meiner Mutter, von unserer Wohnung, den Platten vom Schwarzmarkt. Und ich wusste zwar nicht mehr, wie die Alben hießen, aber ich beschrieb ihm die Bilder auf den Hüllen, wie ich sie in Erinnerung hatte, und jedes Mal hob er einen

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