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Bei Anbruch der Nacht

Titel: Bei Anbruch der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kazuo Ishiguro
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unterscheidet, vor dem Sie tags zuvor aufgetreten sind. Sagen wir, Sie sind in Milwaukee. Jetzt müssen Sie sich fragen, was ist anders, was
ist besonders am Publikum von Milwaukee? Was unterscheidet es von einem Publikum in Madison? Es fällt Ihnen nichts ein, aber Sie müssen es einfach weiter versuchen, bis Ihnen eine Idee kommt. Milwaukee, Milwaukee. Gute Schweinekoteletts machen sie in Milwaukee. Das wird gehen, das verwenden Sie, wenn Sie auf die Bühne rausgehen. Sie brauchen kein Wort darüber zu verlieren, Sie haben es einfach im Kopf, wenn Sie vor ihnen singen. Die Leute vor Ihnen, das sind diejenigen, die gute Schweinekoteletts essen. In puncto Schweinekoteletts setzen sie Maßstäbe. Verstehen Sie, was ich meine? Auf diese Weise wird das Publikum zu Menschen, die Sie kennen, vor denen Sie auftreten können. Sehen Sie, das ist mein Geheimnis. Unter uns Profis.«
    »Danke, Mr Gardner. So hätte ich das nie gesehen. Ein Tipp von jemandem wie Ihnen, das vergess ich nie.«
    »Heute Abend«, fuhr er fort, »treten wir vor Lindy auf. Das Publikum ist Lindy. Also werde ich Ihnen etwas über Lindy erzählen. Wollen Sie was über Lindy wissen?«
    »Natürlich, Mr Gardner«, sagte ich. »Sehr gern möchte ich was über sie wissen.«

    Während der nächsten gut zwanzig Minuten saßen wir in der Gondel und drehten Runde um Runde, während Mr Gardner redete. Manchmal senkte sich seine Stimme zu einem Murmeln, als führte er Selbstgespräche. Dann wieder, wenn eine Laterne oder ein vorbeiziehendes Fenster einen Lichtschein ins Boot warf, erinnerte er sich an mich, hob wieder die Stimme, machte einen Einwurf wie: »Verstehen Sie, was ich meine, mein Freund?«
    Seine Frau, erzählte er, stamme aus einer Kleinstadt in Minnesota, in der Mitte Amerikas, wo die Lehrerinnen sie ordentlich
piesackten, weil sie sich, statt zu lernen, lieber Zeitschriften mit Filmstars ansah.
    »Eines ging diesen Damen nie auf, nämlich dass Lindy große Pläne hatte. Und sehen Sie sie jetzt an. Reich, schön, ist in der ganzen Welt herumgekommen. Und diese Lehrerinnen, wo sind sie heute? Was für ein Leben hatten sie? Hätten sie sich ein bisschen öfter Filmzeitschriften angesehen, hätten sie ein bisschen mehr geträumt, hätten vielleicht auch sie manches von dem, was Lindy heute hat.«
    Mit neunzehn trampte sie nach Kalifornien, denn sie wollte nach Hollywood. Stattdessen landete sie in einem Vorort von Los Angeles als Kellnerin in einer Raststätte.
    »Seltsame Sache«, sagte Mr Gardner. »Dieses Lokal, dieses ganz normale kleine Diner am Highway. Es stellte sich raus, dass sie an keinen besseren Ort hätte geraten können. Denn hierher kamen, von morgens bis abends, alle ehrgeizigen Mädchen. Sie trafen sich hier, zu siebt, zu acht, zu zehnt, bestellten ihren Kaffee, ihren Hotdog, saßen stundenlang zusammen und redeten.«
    Diese Mädchen, alle ein bisschen älter als Lindy, kamen aus allen Teilen Amerikas und lebten seit mindestens zwei, drei Jahren in der Umgebung von L.A. Sie kamen in das Diner, um Klatsch und Leidensgeschichten auszutauschen, Taktiken zu besprechen, die Erfolge der anderen im Auge zu behalten. Aber der Hauptmagnet des Lokals, das war Meg, eine Frau in den Vierzigern, Lindys Kollegin.
    »Für diese Mädchen war Meg die große Schwester, ihre Quelle der Weisheit. Denn einst, vor langer Zeit, war sie ganz genauso gewesen wie sie. Es waren Mädchen, die es ernst meinten, müssen Sie wissen, wirklich entschlossen und voller Ambitionen. Redeten sie über Klamotten und Schuhe und
Make-up wie andere Mädchen? Klar. Aber sie redeten nur darüber, welche Klamotten und Schuhe und welches Make-up hilfreich waren, um sich einen Star zu angeln. Redeten sie über Filme? Redeten sie über die Musikszene? Darauf können Sie wetten. Aber sie redeten darüber, welche Filmstars und welche Sänger Junggesellen waren und welche unglücklich verheiratet, welche eine Scheidung vor sich hatten. Und Meg, verstehen Sie, sie konnte ihnen das alles sagen und noch viel, viel mehr. Meg war diesen Weg vor ihnen gegangen. Wenn es darum ging, einen Star zu heiraten, kannte sie alle Regeln, alle Tricks. Und Lindy saß dabei und ließ alles auf sich wirken. Dieses kleine Hot-Dog-Lokal war ihr Harvard, ihr Yale. Eine Neunzehnjährige aus Minnesota? Ich schaudere, wenn ich mir vorstelle, was ihr alles hätte zustoßen können. Aber sie hatte Glück.«
    »Mr Gardner«, sagte ich, »entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbreche. Aber wieso war diese Meg, wenn

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