Bei Anbruch der Nacht
Crooner
A n dem Morgen, an dem ich Tony Gardner zwischen den Touristen sitzen sah, zog hier in Venedig gerade der Frühling ein. Wir hatten unsere erste ganze Woche draußen auf der Piazza hinter uns – eine Wohltat, kann ich Ihnen sagen, nach den endlosen stickigen Stunden hinten im Café, wo wir der Kundschaft im Weg sind, die ins Treppenhaus will. Es ging ein ziemlicher Wind an diesem Morgen, und unsere brandneue Markise flatterte uns um die Ohren, aber wir fühlten uns alle ein bisschen frischer und fröhlicher, und das hörte man unserer Musik wohl auch an.
Aber ich rede hier, als wäre ich ein reguläres Bandmitglied, dabei bin ich einer der »Zigeuner«, wie uns die anderen Musiker nennen, einer von denen, die rund um die Piazza wandern und aushelfen, wenn in einem der drei Kaffeehausorchester Not am Mann ist. Meistens spiele ich hier im Caffè Lavena, aber wenn nachmittags viel los ist, begleite ich schon mal die Leute vom Quadri bei einem Set oder gehe rüber zum Florian, dann über den Platz zurück ins Lavena. Ich komme mit allen gut aus – auch mit den Kellnern -, und in jeder anderen Stadt hätte ich schon eine feste Anstellung. Aber hier, wo sie
alle derart besessen von Tradition und Vergangenheit sind, ist alles umgekehrt. Überall sonst wäre es ein Pluspunkt, wenn einer Gitarre spielt. Aber hier? Eine Gitarre! Die Geschäftsführer der Kaffeehäuser drucksen herum. Das wirkt zu modern, das gefällt den Touristen nicht. Bloß damit mich keiner für einen Rock’n’ Roller hält, habe ich seit letztem Herbst eine klassische Jazzgitarre mit ovalem Schallloch, eine, die zu Django Reinhardt gepasst hätte. Das macht es ein bisschen einfacher, aber die Geschäftsführer sind noch immer nicht zufrieden. Auf diesem Platz hier kannst du als Gitarrist Joe Pass sein, und sie stellen dich trotzdem nicht fest ein, so ist es.
Natürlich ist da noch die Nebensächlichkeit, dass ich kein Italiener bin, geschweige denn Venezianer. Dem großen Tschechen mit dem Altsax geht es nicht anders. Wir sind beliebt, wir werden von den anderen Musikern gebraucht, aber wir passen nicht so ganz ins offizielle Programm. Spielt einfach und haltet den Mund, sagen die Geschäftsführer immer. Dann merken die Touristen nicht, dass ihr keine Italiener seid. Tragt eure Anzüge, Sonnenbrillen, kämmt euch das Haar zurück, dann merkt keiner einen Unterschied, aber fangt bloß nicht an zu reden.
Aber ich mache mich ganz gut. Alle drei Kaffeehausorchester, besonders wenn sie gleichzeitig unter ihren Konkurrenzbaldachinen aufspielen müssen, brauchen eine Gitarre – etwas Weiches, Solides, aber Verstärktes, das im Hintergrund die Akkorde schlägt. Sie denken jetzt wahrscheinlich: Drei Bands gleichzeitig auf ein und demselben Platz, das klingt doch schrecklich! Aber die Piazza San Marco ist groß genug, die verkraftet das. Ein Tourist, der über den Platz schlendert, hört das eine Stück verklingen, während sich das nächste einblendet, ungefähr so, wie wenn er an der Skala seines Radios dreht.
Wovon die Touristen nicht allzu viel vertragen, das sind die klassischen Sachen, die ganzen Instrumentalversionen berühmter Arien. Okay, wir sind hier auf dem Markusplatz, sie wollen nicht gerade die neuesten Pop Hits. Aber sie hören gern alle paar Minuten was, das sie kennen, vielleicht eine alte Julie-Andrews-Nummer oder ein Thema aus einem berühmten Film. Ich weiß noch, wie ich letzten Sommer von einer Band zur nächsten pilgerte und an einem einzigen Nachmittag neunmal »The Godfather« spielte.
Jedenfalls waren wir an besagtem Frühlingsmorgen draußen und spielten vor einer ordentlichen Touristenmenge, als ich Tony Gardner entdeckte, der allein vor seinem Kaffee saß, fast direkt vor uns, vielleicht sechs Meter von unserer Markise entfernt. Wir haben ständig Prominente hier auf der Piazza, aber wir machen keinen großen Wirbel darum. Kann sein, dass es sich die Bandmitglieder am Ende eines Stücks zuflüstern: Schau, da ist Warren Beatty. Schau, das ist Kissinger. Diese Frau dort, die war doch in dem Film über die Männer, die ihre Gesichter tauschen. Ist für uns nichts Besonderes. Es ist schließlich der Markusplatz. Aber als mir klar wurde, dass es Tony Gardner war, der hier saß, war es anders, da wurde ich doch sehr aufgeregt.
Tony Gardner war der Lieblingssänger meiner Mutter. Solche Platten aufzutreiben war bei uns zu Hause, damals in der kommunistischen Zeit, fast unmöglich, aber meine Mutter besaß praktisch die
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