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Bei Einbruch der Nacht

Bei Einbruch der Nacht

Titel: Bei Einbruch der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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darauf hin, daß sie die höchste Straße Europas befahren würden, ein weiteres mahnte zur Vorsicht. Camille holte tief Luft. Es stank nach Hund, nach Wollschweiß und nach Schweiß, aber diese ekelhafte, vertraute Mischung hatte etwas Tröstliches für sie.
    Zwei Kilometer weiter begann das Mercantour-Massiv. Die Straße war ungefähr so, wie Camille befürchtet hatte, eng und kurvig, ein schmales Band, das in den Berghang geschnitten war wie eine Narbe.
    Der Lastwagen arbeitete sich langsam und unter lautem Geschepper den steilen Hang hinauf und ächzte in den Haarnadelkurven. Camille streifte mit dem rechten Kotflügel beinahe die fast senkrechte Felswand, und links hing sie über dem Abgrund. Sie wandte ihren Blick von der Leere und hielt statt dessen nach den Höhenangaben am Straßenrand Ausschau. Bei zweitausend Metern wurden die Bäume weniger und der Motor aufgrund des Sauerstoffmangels heiß. Mit vor Anstrengung zusammengebissenen Zähnen behielt Camille die Temperaturanzeige im Auge. Es war nicht gesagt, daß der Lastwagen durchhielt. Der ist robust, hatte ihr Buteil versichert, der mit dem Viehtransporter mühelos von Weide zu Weide kutschierte. Jetzt, auf dem Weg zum Paß, hätte sie seine Hilfe nicht abgelehnt.
    Zweitausendzweihundert Meter Höhe, die letzten verkrüppelten Lärchen, dann begannen die Weideplätze, die wie Teppiche auf den grauen Hängen lagen. Eine herbe Schönheit natürlich, eine öde Welt der Riesen und der Stille, in der der Mensch, und erst recht sein Schaf, vollkommen unproportioniert schien. Ab und zu tauchten alte Schäfereien mit Blechdächern auf, die einzeln an den Hängen der Viehweiden lagen. Camille warf dem Wacher einen Blick zu. Er schien im Schatten seines hellen Hutes zu schlafen, so ruhig wie ein Seemann auf dem Deck seines Schiffes. Sie bewunderte ihn. Es verblüffte sie, wie er fünfzig Jahre seines Lebens in dieser unermeßlich leeren Einöde hatte verbringen können, nicht größer als eine Laus, die auf dem Rücken eines Mammuts herumläuft, ohne sich etwas daraus zu machen. Man sagte immer mit bösartigem Unterton, Massart habe nie eine Frau gehabt, aber der Wacher hatte ebenfalls keine Frau gehabt, und niemand verlor ein Wort darüber. Immer alleine in den Bergen. Zweitausendsechshundertzweiundzwanzig Meter. Vorsichtig überholte Camille zwei Radfahrer, die am Ende ihrer Kräfte waren, aber schließlich hatte sie ja niemand dazu gezwungen, und schaltete in den ersten Gang, um die letzte Kurvenstrecke in Angriff zu nehmen, die zum Paß hinaufführte. Ihr ganzer Oberkörper schmerzte.
    »›Gipfel‹«, verkündete da Soliman und brach das Schweigen. »›Höchster Punkt. Höchster Grad, Vollendung, Höhepunkt.‹ Oben kannst du anhalten, Camille«, fügte er hinzu. »Dort gibt es einen Parkplatz.«
    Camille nickte.
    Sie fuhr den Lastwagen in den Schatten, schaltete den Motor ab, ließ die Arme fallen und schloß die Augen.
    »›Pause‹«, sagte Soliman zum Wacher. »›Unterbrechung einer Arbeit, einer Aufgabe. Erholung, Aussetzen. Kurze Unterbrechung einer Vorstellung.‹ Steig aus, wir machen Abendessen, während sie ein bißchen zu Atem kommt.«
    Es war gar nicht so einfach, aus dem Lastwagen zu kommen, und Soliman half dem alten Schäfer, wobei er ihn fast die zwei Trittstufen hinuntertrug.
    »Behandele mich nicht wie einen unnützen Alten«, bemerkte der Wacher barsch.
    »Du bist nicht unnütz. Du bist sehr alt, sehr steif und ganz schön klapprig, und wenn ich dir nicht helfe, fliegst du auf die Schnauze. Und dann müssen wir uns die ganze Fahrt um dich kümmern.«
    »Du gehst mir auf die Nerven, Sol. Laß mich jetzt los.«
    Eine Stunde später gesellte sich Camille zu den zwei Männern, die sich mit ihren Klappstühlen um die Holzkiste gesetzt hatten und im Freien zu Abend aßen. Langsam wurde es dunkel. Sie ließ ihren Blick über die Landschaft schweifen, bis zum Horizont nichts als Gipfel und Kiefern. Nicht ein Weiler, nicht eine Hütte, nicht ein Mensch in diesem Wolfsrevier. In diesem Augenblick fuhren die zwei Radfahrer auf der Paßstraße vorbei.
    »So«, sagte sie, »jetzt sind wir ganz allein.«
    »Wir sind zu dritt«, sagte Soliman und streckte ihr einen Teller hin.
    »Plus Ingerbold«, fügte Camille hinzu.
    »Interlock«, verbesserte Soliman. »›Strickmaschine zur Herstellung eines Maschengewebes.‹«
    »Ja«, sagte Camille. »Entschuldigung.«
    »Also zu viert«, stellte der Wacher klar.
    Er saß aufrecht auf seinem Stuhl und zeigte

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