Bei Einbruch der Nacht
Abfahrt nicht gedacht. Camille sollte der Fahrer sein, und Soliman hatte nicht eine Sekunde lang daran gedacht, mit dem Fahrer in einem Raum zu schlafen. Aber sobald der Lastwagen stand, hörte Camille auf, Fahrer zu sein, und wurde wieder einfach eine Frau, die zwei Meter entfernt auf einem Laken schläft, nur durch eine Plane von einem getrennt, und eine Plane ist nicht gerade viel. Eine Frau wie Camille auf einem Bett, nur zwei Meter von einem entfernt, war dagegen gigantisch.
Camille wandte sich zu ihm um.
»Weißt du, ob es hier irgendwo Wasser oder so was gibt?« fragte sie.
»Soviel du willst«, sagte Soliman. »Fünfzig Meter nach links gibt es eine Quelle mit einem Becken. Wir haben uns da gewaschen, als du geschlafen hast. Geh, bevor es richtig kalt wird.«
Die plötzliche Vorstellung, Camille könne ihre Jacke, ihre Jeans und ihre Stiefel ausziehen, fuhr ihm in den Magen. Er stellte sich vor, wie sie sich fünfzig Meter entfernt in diesem Bach wusch, in der Dunkelheit ganz weiß und durch ihre Nacktheit verletzlich. Ohne Stiefel, ohne Jacke, ohne T-Shirt und ohne Lastwagen erschien ihm Camille so verwundbar, als ob der Fels, der sie bislang beschützt hatte, plötzlich zur Seite rücken würde. Entwaffnet, also erreichbar. Fünfzig Meter sind nicht viel.
Beinahe erreichbar. Alles hängt immer an diesem ›beinahe‹. Wenn man einfach die fünfzig Meter Entfernung bis zu dem nackten Mädchen am Bach überwinden könnte, ohne sich groß Gedanken darüber zu machen, und wenn das nackte Mädchen sich auch noch freuen würde, einen zu sehen, dann wären viele Probleme auf diesem Planeten um einiges einfacher. Aber so funktioniert das nicht. Diese fünfzig Meter sind so unvorstellbar kompliziert, am Anfang, am Ziel, in der Mitte. Nichts geht.
Camille ging mit einem Handtuch um die Schultern an ihm vorbei. Soliman saß im Schneidersitz auf dem Boden, die Arme um beide Knie geschlungen.
Beinahe erreichbar. Die schwierigsten fünfzig Meter der Welt.
19
Jean-Baptiste Adamsberg war am Vorabend in Avignon eingetroffen, jetzt saß er am anderen Ufer der Rhone, wo er ein Plätzchen gefunden hatte, an dem er ungestört seinen Gedanken nachhängen konnte. Wo auch immer er sich gerade aufhielt, führte ihn eine Art Instinkt innerhalb kurzer Zeit genau zu den Orten, die für ihn lebenswichtig waren. Deshalb machte er sich auf Reisen nie Gedanken über den Ort, an dem er landen würde. Er wußte, er würde ihn finden. Diese Orte ähnelten sich alle in gewisser Hinsicht, unabhängig von ihrer Beschaffenheit, ihrem Klima oder der Vegetation, ob sie hier in Avignon oder am anderen Ende der Welt lagen. Wichtig war nur, daß der Ort leer genug, wild genug und verborgen genug war, damit sich sein Geist frei entfalten konnte, aber auch schlicht genug, damit er nicht die Aufmerksamkeit auf sich lenkte und man verpflichtet war, seine Schönheit zu kommentieren. Landschaften, bei deren Anblick einem der Atem stockt, stören beim Denken. Man muß sich mit ihnen beschäftigen und wagt es nicht, sich dort niederzulassen, ohne ihnen ein Minimum an Aufmerksamkeit entgegenzubringen.
Adamsberg hatte den ganzen Tag auf dem Kommissariat von Avignon zugebracht, damit beschäftigt, den hartnäckig leugnenden Geschäftsmann zu verhören, den Schwager des ermordeten Jungen aus der Rue Gay-Lussac. Der Kommissar hatte seine Karten noch nicht aufgedeckt, dafür war es noch zu früh. Er hatte den Mann in ein dahintreibendes Gespräch verwickelt und ihn dabei weiter ins
Offene driften lassen, als ihm lieb sein konnte, so wie ein Boot, das sich mit jeder Welle weiter vom rettenden Ufer entfernt. Und wenn man hinsieht, ist es schon zu spät, man ist zu weit draußen und kann nicht mehr umkehren. Bei schwierigen Verhören wandte Adamsberg diese einschmeichelnde Methode oft an, ohne daß er sie je hätte beschreiben oder wenigstens benennen können, selbst wenn ein ihm so wichtiger Kollege wie Danglard ihn darum bat.
Er konnte es nicht. Er wandte sie an, weil bei manchen Menschen keine andere Methode vorstellbar war. Was für Menschen? Na, eben solche wie der Kerl aus Avignon zum Beispiel.
Einstweilen war dem Mann noch vage bewußt, daß ihn der Kommissar genau dorthin lenkte, wo er auf keinen Fall hinwollte, dorthin, wo er keinen Boden mehr unter den Füßen spürte. Er reagierte. Er ging in Deckung und versuchte sich zu verteidigen. Adamsberg schätzte, daß er noch ein gutes Dutzend Stunden brauchen würde, ihn aus dem Gleichgewicht zu
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