Beim ersten Sonnenstrahl (Teil 1) (German Edition)
kennengelernt.
Das Leben war nicht nett zu Granny gewesen. Erst wurde ihr der Mann genommen, dann der Sohn und die Schwiegertochter. Und David würde ihren letzten Wunsch auch nicht erfüllen können.
Weil er ein Egoist war.
Seufzend lief er nach unten und wollte sich eben seinen Mantel anziehen, als er zögerte. Ob das Wesen überhaupt noch dort sein würde? Was, wenn David zur Kirche ging und der Gargoyle wieder in sein Haus kam – dann würden sie sich verpassen!
David überlegte. Er würde zuhause bleiben und auf den Gargoyle warten. Schließlich hatte der ihn fast jede Nacht besucht, falls David sich auf sein Gespür verlassen konnte. Vielleicht würde er auch heute kommen.
***
Die Stunden wollten nicht vergehen. David saß auf der dunklen Treppe und starrte von dort auf das Fenster neben der Haustür, durch das der Gargoyle beim letzten Mal verschwunden war. David hatte es nicht verriegelt. Das Licht der Gaslaterne warf gespenstische Schatten auf das Glas, wenn sich die Äste des Apfelbaumes im sanften Wind bewegten.
Warum kam der Gargoyle nicht? Und was würde David tun, wenn er plötzlich vor ihm stand? Irgendwie freute und fürchtete er sich gleichermaßen. Soweit er wusste, hegten diese Wesen keine bösen Absichten – im Gegenteil. Sie waren Beschützer. Wächter der Menschen.
Er wird warten, bis die Straßen leer sind … Noch war zu viel Betrieb. Ab und zu ratterten eine Kutsche oder ein Automobil vorbei. Passanten waren unterwegs, überwiegend Männer, die ihre Clubs aufsuchten.
David war einmal in so einem Herrenclub gewesen, hatte ihn jedoch fünf Minuten später wieder verlassen. Das war nicht seine Welt. Mit Menschen konnte er nichts anfangen und bei den Magiern war er auch nicht erwünscht.
Nein, das stimmte nicht. Granny hatte ihn mehrmals überreden wollen, die Versammlungen zu besuchen, damit er unter Leute kam, nur er hatte nicht mitgehen wollen.
Er war abnorm. Ein Einzelgänger. Menschenscheu. Eigenbrötlerisch.
Als er über sich ein Knacken hörte, hob er den Kopf. Ob Granny wach war oder … Der Gargoyle lief ü ber das Dach!
Sein Herzschlag geriet ins Stolpern. Bitte, lass es ihn sein!
Starr blieb er sitzen und wagte kaum zu atmen, als er das leise Knarzen de r Stufen vernahm. Jemand kam die Wendeltreppe herunter!
Mit zitternden Knien stand er auf und drückte sich gegen das Geländer, bis das Geräusch verstummt war. Derjenige war nicht ganz nach unten gegangen. Er musste sich im zweiten Stock befinden, wo seine Räume lagen.
David schlich hinauf, blieb an der obersten Stufe stehen und streckte den Kopf in den Flur. Alles war dunkel. Aber stand da nicht ein Schatten vor seiner Tür? Ein mächtig großer Schatten?
David wusste, dass Gargoyles gute Sinne besaßen. Würde Davids heftig schlagendes Herz zu hören sein? Konnte das Wesen ihn sehen oder sogar riechen?
Es verharrte eine Ewigkeit, wie es David schien, vor seiner Tür. Er zwinkerte und zweifelte bereits an seiner Wahrnehmung, als sich der Schatten bewegte. Seine Tür ging auf und wieder zu. Der Gargoyle befand sich in seinem Zimmer!
David musste handeln. Schnell! Was sollte er tun? Und was würde das Wesen machen, weil es den Raum leer vorfand?
Er zögerte nicht länger, stürzte zur Tür, riss sie auf und sperrte sie hinter sich ab. Dann presste er den Rücken gegen das Holz. Sein Puls hämmerte in den Schläfen, er atmete hektisch. Im Zimmer war es stockdunkel, da Granny die Vorhänge zugezogen hatte.
»Ich weiß, dass du hier b ist«, sagte er bebend. »Bitte zeige dich mir endlich.« Oder ich werde noch verrü ckt.
Nichts geschah. Alles war still.
David erwartete, jeden Moment eine Berührung zu fühlen, zumindest einen Lufthauch, wenn das Wesen an ihm vorbeistrich.
Nichts.
Tränen füllten seine Augen. Spielte ihm seine blühende Fantasie einen Streich?
Da hörte er das leise Knacken, das die Verbindungstür verursachte, wenn sie geöffnet wurde. Verdammt, David hatte nicht bedacht, dass der Gargoyle durch den angrenzenden Ankleideraum und das Badezimmer fliehen konnte!
Er sah nur einen Ausweg, eine letzte Chance, das Wesen zu sehen.
Es hat mich schon einmal beschützt , dachte er. Gargoyles sind Wächter …
So schnell er konnte, eilte er auf sein Fenster zu. Dabei stieß er gegen den Stuhl, der scheppernd zu Boden fiel.
Verflucht, das hatte wehgetan. Immerhin wusste er jetzt, dass er nicht träumte.
»Wenn es dich nicht gibt«, krächzte er, »wenn ich mir deine Anwesenheit nur einbilde, dann
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