Benkau Jennifer
sehen – nicht so.“
Er öffnete die Augen, warf einen kurzen Blick auf ihre Uhr und dann einen langen in ihre Augen. „Geh!“ Mit diesem einen Wort riss er mühelos ihr Kartenhaus aus Beherrschung ein. Die Tränen vermischten sich mit den Regentropfen auf ihren Wangen. „Bitte glaub mir, du kannst mich nicht retten.“
„Aber ich kann’s versuchen.“ Ihre Stimme klang noch höher, als sie es für gewöhnlich tat. Sie verstärkte den Griff um seine Schultern, ihre Fingernägel bohrten sich in seine Haut.
Sein Gesicht verzog sich voller Schmerz. „Es tut mir leid.“
Dann stieß er sich mit aller Kraft von der Brüstung ab.
Seine Arme glitten unter Helenas Händen weg. Sie spürte noch, wie sie ihn kratzte, bei dem verzweifelten Versuch, ihn festzuhalten.
Er fiel.
Helena schrie.
Entsetzt lehnte sie sich weit über das Brückengeländer und sah, wie sein fallender Körper die Konturen verlor, während er in die Dunkelheit eintauchte. Der Aufprall erzeugte ein dumpfes, knirschendes Geräusch und presste zugleich einen letzten, stöhnenden Schmerzlaut aus seiner Kehle.
Sie erkannte seine Umrisse nur noch schemenhaft, aber klar genug, um den unnatürlichen Winkel auszumachen, den sein Rücken bildete. In der Stille, die folgte, stöhnten und ächzten nur noch die Bäume im Wind. Nach einer Weile begann Cat zu winseln.
Als Helenas Denken wieder einsetzte, rannte sie von der Brücke und versuchte, seitlich die Böschung hinunterzuklettern. Doch es war zu steil, die nasse Erde zu rutschig, um nach unten zu gelangen, ohne selbst zu stürzen. Sie musste Hilfe holen. Mit hochgerafftem Rock lief sie los, darauf hoffend, sich in ihrer Panik nicht noch zu verlaufen. Cat blieb dicht an ihrer Seite, ihr Hecheln war der einzige Fixpunkt im Chaos.
Auf dem nassen Erdboden geriet sie mehr als einmal ins Rutschen. Spitze Steine und Stöcke stachen ihr in die Sohlen, sie stolperte über Wurzeln, auf die sie nicht achtete. Nach wenigen Minuten bluteten ihre Füße, ihre Lungen brannten und über ihr Gesicht liefen heiße Tränen. Der Wald schien kein Ende nehmen zu wollen.
Wut machte sich breit.
Dieser Dreckskerl!
Warum hatte er gerade heute an gerade dieser Stelle sein verdammtes Leben beenden müssen? Wieso hatte er nicht auf sie gehört? Warum hatte sie ihn nicht festhalten können? Wenn sie doch nur nach seinen Händen gegriffen hätte. Wenn sie etwas anderes gesagt hätte. Etwas Verständnisvolles, statt bemüht lässiger Sprüche.
Warum war sie hergezogen und warum hatte sie ausgerechnet heute diesen Weg entlanggehen müssen!
Am ersten Haus klingelte sie Sturm, keuchend vor Anstrengung und Fassungslosigkeit, und wie betäubt von dem Unwillen, zuglauben, was sich soeben abgespielt hatte.
Stunden später saß Helena immer noch auf dem Polizeirevier. Unruhig trommelte sie mit Zeige- und Mittelfinger auf ihrer Unterlippe herum. Cat lag mit geschlossenen Augen über ihren Füßen, doch sie schlief nicht, ihr Körper war angespannt. Helenas Hinterteil schmerzte von dem unbequemen Plastikstuhl. Das hysterische Beben hatte irgendwann nachgelassen und war zu einem fröstelnden Zittern geworden. In dem Verhörzimmer lag Kälte sowie ein übler Gestank nach Putzmitteln und dem billigen Linoleum auf dem Boden. Jedes Wort hallte übertrieben laut, denn der Raum war bis auf einen Schreibtisch und ein paar Stühle leer. Zumindest sorgte man dafür, dass ihre Teetasse immer voll war. Pflaster und Desinfektionsmittel hatte man ihr auch gebracht. Vermutlich, weil jeder der anwesenden Polizisten einmal einen Blick auf die zierliche Rothaarige mit dem Kampfhund, den blutigen Füßen und den Halluzinationen vom halb nackten Selbstmörder werfen wollte.
„Noch mal, Frau Sanders.“ Kommissar Wassen raufte sich das lichte Haar. „Die Kollegen haben keine Hinweise auf einen Suizidversuch finden können. Keine Leiche, kein Blut. Nicht mal Abdrücke im Boden. Was auch immer Sie gesehen haben, von besagter Brücke hat sich niemand gestürzt. Absolut ausgeschlossen.“
Helena stützte die Ellbogen auf den Tisch und legte die Stirn auf den Fäusten ab. „Aber er war da. Ich sah ihn fallen, hörte den Aufschlag und …“
„Hören Sie, möglicherweise hat Ihnen Ihre Fantasie einen Streich gespielt. Überdenken Sie bitte diese Möglichkeit. Wenn Sie darauf bestehen, dass dort tatsächlich jemand versucht hat, sich das Leben zu nehmen – ohne die geringste Spur zu hinterlassen – sind wir nachher noch gezwungen, ihr Blut auf
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