Benkau Jennifer
sind allenfalls sieben oder acht Meter. Möglicherweise überleben Sie den Sturz. Und dann haben Sie wirklich ein Problem, wenn nicht bald der nächste Regionalexpress vorbeikommt. Was in diesem Kaff durchaus bis morgen früh dauern könnte. Wollen Sie die ganze Nacht mit zerschmetterten Knochen im Regen liegen?“
„Das lassen Sie bitte meine Sorge sein.“
„Ich könnte mir schönere Orte zum Sterben vorstellen.“ Reden war nun das einzig Wichtige. Sie musste ihn in ein Gespräch verwickeln.
Er lächelte erneut. „Ach wirklich?“
Nein, er würde jetzt nicht mehr springen. Jemand, der sich selbst töten wollte, würde doch niemals so amüsiert und freundlich lächeln.
„Ja. Das hier“, sie machte eine geringschätzende Handbewegung, „hat doch keinen Stil für ein würdiges Ende. Nehmen Sie doch lieber die Niagarafälle. Oder den Grand Canyon. Oder … oh, die Golden Gate Bridge. Es heißt, in der San Francisco-Bay tummeln sich massenweise Bullenhaie, die sich mörderisch über jeden Springer freuen. Dann wären Sie wenigstens nicht umsonst gestorben.“
Nun lachte er. Ein leises, warmes Lachen, das ihr in jeder anderen Situation im Magen gekribbelt hätte.
„Vermutlich haben Sie recht. Leider habe ich keine Zeit, um in die Staaten zu reisen. Nun, auch wenn ich wirklich gern noch ein wenig plaudern würde … es geht nicht.“ Seine Stimme wurde wieder ernst und kühl. „Und das ist auch besser so. Bitte gehen Sie jetzt.“
Helena rutschte ein Stück in seine Richtung. Cat blieb dicht neben ihr, der Blick der Hündin huschte zwischen Helena und dem Fremden hin und her.
„Sagen Sie mir, was geschehen ist“, bat Helena, so sanft sie konnte. „Warum glauben Sie, keinen Ausweg zu sehen?“ Ohne nachzudenken, streckte sie die Hand aus und legte sie auf seinen Handrücken. Ein sichtbares Schaudern huschte seinen Arm entlang und verlor sich auf Höhe seiner Schulter. Sicher der Kälte wegen, es waren kaum zehn Grad und es regnete immer noch. Seine Haut war überraschend warm und sie spürte das leichte Kontrahieren der darunterliegenden Muskeln und Sehnen. Der Regen perlte aus seinen dunklen, kurzen Locken. Die Tropfen liefen ihm wie Tränen über die Wangen und bahnten sich ihren Weg über seinen Körper, um letztlich herunterzufallen. Meterweit in die Tiefe.
Für ein paar Sekunden starrten sie gemeinsam auf ihre Hand. Die Zeit schien stillzustehen, und doch bewegte sich der Sekundenzeiger ihrer Swatch Armbanduhr weiter, Schritt für Schritt. Sie konnte den Hauch eines Tickens hören. Bald war es zehn. Sie hatte diese Uhr schon seit elf Jahren, sie war ein Geschenk ihres Vaters zum dreizehnten Geburtstag gewesen und dementsprechend mädchenhaft mit den rosafarbenen Blumen auf weißem Grund. Peinlich, aber ein Glücksbringer. ‚Wann immer du auf diese Uhr schaust‘, hatte ihr Paps gesagt, ‚es wird genau deine Zeit sein.‘
Absurd, dass sie in diesem Moment daran dachte. Verdrängung der Gegenwart. Oder ein Schock. Hinter ihren Schläfen pochte es.
Seine gereizte Stimme zerstörte den Moment. „Gehen Sie jetzt weg!“
Er wischte ihre Hand fort wie einen Fussel und beendete mit dem Hautkontakt auch jede Hoffnung. Lächeln hin oder her. Er würde springen. Unvermittelt schossen ihr Tränen in die Augen.
„Tun Sie’s nicht!“ Sie wollte ihn erneut berühren, doch fand nicht den nötigen Mut. „Egal, was passiert ist, aber bitte geben Sie sich noch Zeit! Kommen Sie mit zu mir, ich wohne ganz in der Nähe. Ich koche Ihnen einen Tee und Sie denken noch mal drüber nach.“ Ein Schluchzen drängte aus ihrer Kehle, aber sie verkniff es sich und wischte sich mit dem nassen Ärmel ihrer Regenjacke über die Nase. „Geben Sie mir eine halbe Stunde, danach können Sie gehen und tun, was immer Sie wollen, solange Sie es mir nur nicht sagen. Kommen Sie, bitte …“
Er kniff die Augen zu und schüttelte den Kopf. „Geh jetzt!“, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Sein Puls hämmerte sichtbar an seiner Kehle und oberhalb seines Schlüsselbeins und strafte die bisherige Gleichgültigkeit Lügen. Er hatte Angst. „Sofort! Verschwinde, hau ab!“
Helena rückte noch näher, sodass sie direkt vor ihm stand, und umfasste seine Schultern mit beiden Händen. Er zuckte unter ihrem Griff zusammen.
„Sie tun mir das nicht an!“, sagte sie fest. „Was Sie mit Ihrem Leben machen, ist Ihre Entscheidung, aber Sie werden es sich nicht vor meinen Augen nehmen. Ich will niemanden sterben
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