Berg der Legenden
wünschen?«, fragte er und zupfte am Revers seines Talars.
»Mein Name ist George Mallory, Sir. Ich haben einen Termin bei Ihnen.«
»Sie hatten einen Termin, um präzise zu sein, Mallory. Sie sollten um drei Uhr hier sein, und da ich den ausdrücklichen Befehl gegeben habe, keinem Kandidaten nach drei Uhr Zutritt zum College zu gewähren, muss ich Sie fragen, wie Sie hereingekommen sind.«
»Ich bin über die Mauer geklettert, Sir.«
»Sie taten was ?«, fragte Mr Benson und erhob sich langsam und ungläubig hinter seinem Schreibtisch. »Folgen Sie mir, Mallory.«
George sagte nichts, als Mr Benson ihn die Treppen hinab, über den Hof und zur Pförtnerloge führte. Kaum hatte er den Senior Tutor erblickt, sprang der Portier auf.
»Harry«, sagte Mr Benson, »haben Sie diesem Kandidaten gestattet, nach drei Uhr das College zu betreten?«
»Nein, Sir, auf gar keinen Fall«, sagte der Portier und starrte George ungläubig an.
Mr Benson wandte sich an George. »Zeigen Sie mir, wie genau Sie in das College gelangt sind, Mallory«, verlangte er.
George führte die beiden Männer zurück in den Fellow’s Garden und deutete auf seine Fußabdrücke im Blumenbeet. Der Senior Tutor wirkte immer noch nicht überzeugt. Der Pförtner enthielt sich jeder Meinung.
»Wenn Sie, wie Sie behaupten, Mallory, hereingeklettert sind, dann können Sie gewiss auch wieder hinausklettern.« Mr Benson trat einen Schritt zurück und verschränkte die Arme.
Langsam ging George den Weg auf und ab und musterte die Mauer sorgfältig, ehe er sich für eine Route entschied. Der Senior Tutor und der Pförtner des College beobachteten verblüfft, wie der junge Mann, ohne einmal innezuhalten, gewandt die Mauer erklomm, bis er ein Bein über den Dachfirst schwang und rittlings sitzen blieb.
»Darf ich wieder herunterkommen, Sir?«, fragte George bedrückt.
»Aber gewiss doch, junger Mann«, sagte Mr Benson ohne Zögern. »Es ist offensichtlich, dass nichts Sie davon abhalten wird, in dieses College hineinzukommen.«
6
Samstag, 1. Juli 1905
Als George zu seinem Vater sagte, er habe nicht die Absicht, das Moulin Rouge zu besuchen, entsprach dies der Wahrheit. In der Tat hatte Reverend Mallory bereits einen Brief von Mr Irving erhalten, in dem dieser detailliert ihre Reiseroute für den Besuch in den Alpen beschrieb, und demnach war ein Aufenthalt in Paris überhaupt nicht vorgesehen. Doch das war, bevor George Mr Irving das Leben rettete, als Unruhestifter verhaftet wurde und eine Nacht im Gefängnis verbrachte.
Georges Mutter gelang es nie, ihre Furcht zu verbergen, wenn ihr Sohn zu einer seiner Klettertouren aufbrach, gleichwohl steckte sie ihm jedes Mal eine Fünf-Pfund-Note zu, mit der geflüsterten Bitte, dem Vater nichts davon zu sagen.
In Southampton stieß George auf Guy und Mr Irving, wo sie sich auf die Fähre nach Le Havre einschifften. Als sie vier Stunden später in dem französischen Hafen von Bord gingen, wartete bereits der Zug, der sie nach Martigny bringen sollte. Den Großteil der langen Reise verbrachte George damit, aus dem Fenster zu starren.
Er wurde an Mr Irvings Leidenschaft für Pünktlichkeit erinnert, als sie aus dem Zug stiegen und ein Pferdegespann vorfanden, das bereits auf sie wartete. Mit einem Peitschenknall des Kutschers setzte sich die kleine Gesellschaft in flottem Tempo in Richtung Berge in Bewegung, und George konnte eingehend die gewaltigen Herausforderungen betrachten, die vor ihm lagen.
Als die drei Reisenden im Hôtel Lion d’Or in Bourg St Pierre am Fuße der Alpen ankamen, war es bereits dunkel. Während des Abendessens breitete Mr Irving eine Karte auf dem Tisch aus, erläuterte seine Pläne für die nächsten vierzehn Tage und deutete auf die Berge, die sie zu besteigen versuchen würden: den Großen Sankt Bernhard (2469 Meter), den Mont Vélan (3731 Meter) sowie den Grand Combin (4313 Meter). Wenn sie es schafften, alle drei zu bezwingen, würden sie mit dem Monte Rosa (4638 Meter) weitermachen.
Aufmerksam studierte George die Karte und wartete bereits ungeduldig darauf, dass die Sonne am nächsten Morgen wieder aufging. Guy blieb still. Obgleich Mr Irving dafür bekannt war, unter seinen Schülern nur die vielversprechendsten Bergsteiger für seine jährliche Reise in die Alpen auszuwählen, kamen Guy bereits Zweifel, ob er nicht vielleicht doch besser darauf verzichtet hätte.
George hingegen plagten keine solche Bedenken. Doch selbst Mr Irving war überrascht, als sie
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