Berge Meere und Giganten (German Edition)
Arm los, seine Schultern bebten lautlos. Er schluchzte. Marduk stand an einem Vorgartengitter, wartete, bis er endete. »Du bist zu früh nach Hause gekommen, Jonathan. Du hättest länger an der Ostsee bleiben sollen.«
Der sah ihn mit verdunkelten Augen an: »Hab ich dir nicht genug Beweise gegeben?«
»Ich – brauch meine Mutter nicht vergessen«, Jonathan sah den andern fast zärtlich an: »Ich habe sie mit Schmerzen – wieder geboren. Wie sie mich geboren hat.« Er hauchte: »Sieh auf die Eiche da. Sieh immer in das Laub der Eiche hinein. Dann erzähle ich dir. Du darfst aber nicht wegsehen. Sie ist zu mir gekommen. Meine Mutter. An der See. Stückweise. Ich habe sie deutlich am Wasser gesehen. Erst sah ich – ihren Arm. Oh der Arm, – er war zerpreßt. Was hab ich mich gewunden. Er bewegte sich, die Finger griffen auf und zu. Er krampfte. Aber ich, ich, Marduk, ich konnte ihn stillhalten. Er hielt still. Ich konnte das, Marduk. Und beim andern Arm auch. Ich konnte alle Finger langsam bewegen machen. Und dann kamen die Schultern, die Schultern meiner Mutter. Ich habe oft meinen Kopf auf die Schultern gelegt. Ich war zu Hause, wenn ich ihre Schulter berührte. Die Schulter – konnte ich – nicht erkennen. Du mußt in das Laub sehen, Marduk. Du tust es. Die Schulter war gespalten. Als wenn sie einer in der Mitte zertrennt hätte. Oder sie wäre auseinandergefallen. Das konnte ich nicht gut machen. Was ich mich anstrengte dabei. Ich habe lange Stunden verbracht, Marduk, um nur die Schulter heil zu machen. Diese Lücke. Ehe die Teile zusammengingen. Aber sie gingen dann zusammen. Und die Arme waren dabei und die Finger bewegten sich ruhig. Und zuerst konnte ich den Kopf nicht sehen. Es machte mir auch gar keine Sorge, daß sie statt eines Kopfes eine Blume zwischen den Schultern hatte, Klatschmohn, die schlaffen roten glanzigen Blätter, von denen welche herunterhingen, und ich konnte eine dunkle Kapsel drin sehen, die stäubte. Es kam mir vor, als wenn das ein Auge war. Sie hatte so schwarze Augen. Und am Abend waren es auch ihre Augen. Sie waren es wirklich. Sie hatte einen roten Hut auf mit roten Bändern und war so freundlich mit mir. Ich konnte mich stundenlang am Strand nicht bewegen, denn ich fürchtete, die Schultern würden wieder auseinanderfallen. Aber ich konnte alles gut zusammenhalten. Nur den Atem durfte ich lange Sekunden nicht von mir geben. Ich bin dann ohne zu essen schlafen gegangen. Lag die Nacht wie im Starrkrampf, war wie ein Toter. Als ich aufwachte und zur Türe hinausging an das Wasser, hielt ich gerade da, wo ich gestern aufgehört hatte. Stört dich, daß du immer in die Blätter sehen mußt? Aber ich kann dann besser erzählen. Ich habe sie dann schließlich ganz gemacht, lebend beweglich, in ihrem Kleid. So kam sie aus deinem Wald heraus. Durch eine Lücke. Ich habe entsetzlich darum kämpfen müssen. Es ist gelungen. Jetzt ist alles wieder gut.«
»Spricht sie nicht?«
»Noch nicht. Ich werde sie schon zum Sprechen bringen. Ich traue mir alles zu.«
»Du wirst sehen, sie wird mich verfluchen.«
»Ich glaub es nicht. Sie sieht mich doch. Sie weiß doch, wo ich bin.« Stolz blickte Jonathan vor sich. Einen Augenblick, als er den Jüngeren so leiden sah, hatte Marduk vorgehabt, ihn von sich wegzuschieben. Er fürchtete, der Jüngling würde ihn schwach machen und zum Erliegen bringen. Jetzt – sah er von der Eiche weg, legte den Arm um die Hüfte des zitternden Menschen, dessen Augen in grauen Höhlen lagen. Beklommen, fast wonnig fühlte er das leise Vibrieren und das atmende Auf und Ab der Flanken. Er dachte: »Ich fühle ihm nach und halte mich. Er ist mein Schmerz und mein Führer. Ich will ihn behalten, solange er so bleibt. Solange er leidet und sich nicht helfen kann, soll er leben bleiben, – damit ich nicht vergesse.«
Zu Jonathan, an dessen grünem bauschigen Kleid er herabblickte, sagte er: »Wärst du ein Mädchen, eine Frau, würde ich dich zur Frau haben wollen. So aber habe ich Glück, daß du kein Weib bist. Du wirst keine Kinder gebären, für dich, gegen mich; wirst ungebunden gehen, wohin du willst. Du wirst nicht aus einer tierischen Laune über mich fallen, damit ich fühle: ich bin noch etwas anderes als dieser Marduk, dein Freund, der dich braucht und dir folgt; ich bin noch eine dumpfe Kraft, nein, ein dumpfes Leiden von irgendwoher, wie diese tausend Menschen, wie die Blätter die Steine.«
»Bedauerst du mich, Marduk? Du brauchst mich nicht zu
Weitere Kostenlose Bücher