Berichte aus dem Christstollen
Menschen. Dachte ich. Aber Nick war begeistert, Gleichgesinnte zu treffen. Damit meinte er all jene, die sich gerne kostümieren und Lieder singen. Das macht er eigentlich das ganze Jahr über, er ist der geborene Karnevalist. Ich bot ihm an, irgendwo außerhalb des närrischen Epizentrums eine Stelle am Zug zu suchen, wo man nicht entweder Bier in den Nacken oder eine Faust ins Maul bekommt, aber Nick wollte mitten rein. Und ganz nach vorne.
Die Wagen und die Spielmannszüge kamen vorbei, eigentlich alles moderat lustig und friedlich. Bis mein Sohn verschwand. Einen Moment hatte ich nicht aufgepasst und mich mit den Augen unter ein Funkenmariechen verirrt, was schon mal vorkommen darf. Da war er verschwunden. Und wieder da. Ich erspähte einen kleinen Vampir, der blitzschnell an einem Wagen hochkletterte. Ich sah, wie mein Sohn oben von einem uniformierten Herrn in Empfang genommen wurde. Die Menge applaudierte. Nick zeigte auf mich und sprach mit dem General, der Nick seine große Mütze aufsetzte. Dann warf mir mein Sohn Kamelle zu, aus vollen Händen warf er und rief: «Helau!» Und ich stolperte wie von Sinnen hinter ihm her. Beim nächsten Halt gab man ihn mir zurück. Ich schimpfte, aber Nick hörte gar nicht zu. Er befand sich in einem Rosenmontagsrausch, der auch am Veilchendienstag noch anhielt.
Ich habe dann sehr viele SMS und Mails bekommen. Die meisten von Freunden, die mich im Fernsehen gesehen hatten. Der Tenor war immer derselbe: Ich sei offenbar hypnotisiert hinter einem Wagen hergelaufen, mit ausgebreiteten Armen und einem umherfliegenden Stethoskop um den Hals. Ob es mir gutgehe. Man mache sich Sorgen um mich. Wo ich doch eigentlich so ein Karnevalshasser sei.
Über Jan Weiler und Larissa Bertonasco
Jan Weiler, 1967 in Düsseldorf geboren, ist Journalist und Schriftsteller. Er war viele Jahre Chefredakteur des SZ-Magazins und Kolumnist beim Stern. Sein erstes Buch «Maria, ihm schmeckt’s nicht!» gilt als eines der erfolgreichsten Romandebüts der letzten Jahre. Es folgten: «Antonio im Wunderland» (2005), «Gibt es einen Fußballgott?» (2006), «In meinem kleinen Land» (2006), «Drachensaat» (2008), «Mein Leben als Mensch» (2009), «Das Buch der 39 Kostbarkeiten» (2011) und «Mein neues Leben als Mensch» (2011). Jan Weiler lebt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in der Nähe von München. Seine Kolumnen erscheinen in der Welt am Sonntag und auf seiner Homepage www.janweiler.de .
Larissa Bertonasco, geboren 1972 in Heilbronn, studierte Italienisch und Kunstgeschichte in Siena und Hamburg, dort anschließend Illustration an der HAW. Seit 2003 zeichnet sie als Freie für Magazine, gestaltet Bücher und ist Mitherausgeberin von SPRING, dem Heft der Zeichnerinnen. Sie hat zwei Kinder und lebt zusammen mit dem Maler Ari Goldmann in Hamburg.
Über dieses Buch
Showdown zur Weihnachtszeit
Spätestens wenn der Adventskalender hängt, läuft der Countdown: Weihnachten droht mit allen Konsequenzen für Figur und Nervenkostüm. Da muss man als Glühweinhasser auf den Weihnachtsmarkt und als Nikolaus in die Schule. Da verwandeln sich Kinder in Wunschmonster und Ehefrauen in backende Nervenbündel. Und natürlich wird das Fest nicht stiller, wenn auch noch der italienische Schwiegervater zu Besuch kommt, um als Hexe verkleidet die Kinder zu bescheren ...
In 17 Kolumnen, von Sankt Martin bis Karneval, lässt Jan Weiler die Weihnachtszeit lebendig werden. Ein Heidenspaß!
Impressum
Die Geschichten in diesem Band erschienen zuerst als Kolumnen unter dem Titel «Mein Leben als Mensch» im Stern und in der Welt am Sonntag.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, November 2013
Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages
Umschlaggestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt
(Umschlagabbildung: © Larissa Bertonasco, Agentur Susanne Koppe, www.auserlesen-ausgezeichnet.de)
Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.
Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.
ISBN Printausgabe 978-3-463-40654-1 (1. Auflage 2013)
ISBN E-Book 978-3-644-31271-5
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-31271-5
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