Die Unersättlichen: Ein Goldman-Sachs-Banker rechnet ab (German Edition)
Kapitel 1
«Keine Ahnung, finde ich aber raus»
Am 12. Juni 2000 saß ich in einem Konferenzraum in der Broad Street 125, dreißig Stockwerke über Lower Manhattan. Ich war zwanzig Jahre alt und begann an diesem Tag mein Sommerpraktikum bei Goldman Sachs. Vorn am Whiteboard stand ein Praktikant namens Josh, der nach allen Regeln der Kunst durch die Mangel gedreht wurde. Er sollte erklären, wie Risikoarbitrage funktioniert, scheiterte aber kläglich. Dass sein Vater Milliardär war und wahrscheinlich einer der mächtigsten Finanziers der Welt, wusste ich damals nicht. Aber wir waren bei Goldman Sachs, wo es keine Rolle spielte, was der Vater machte, weil sich jeder selbst beweisen musste – ohne Ausnahme.
So sah ein «Open Meeting» aus. Es war eine Art Trainingscamp für die fünfundsiebzig Teilnehmer des Sommerpraktikums und gleichzeitig eine altehrwürdige Firmentradition. Vorn saß ein Goldman-Sachs-Managing-Partner mit einer Namensliste und rief willkürlich Teilnehmer auf, um sie im Schnellfeuermodus mit Fragen zur legendären Unternehmenskultur der Firma, zu ihrer Geschichte und zu den Aktienmärkten zu bombardieren. Man musste auf Zack sein, hellwach und bestens informiert. Das Open Meeting war eine explosive Mischung aus Schulung, Indoktrination und subtilen Schikanen, was uns auf den Umgang mit heiklen Kunden vorbereiten sollte. Wir lernten, dass jede Antwort sitzen musste. Für zwei Teilnehmer endete diese Inquisition in jenem Sommer mit Tränen. Doch es half nichts: Wer eine Anstellung bei Goldman Sachs anstrebte, der musste diesen Härtetest bestehen, Woche für Woche.
Die Open Meetings dienten der Firma als Auswahlkriterium, welche der Kandidaten nach ihrem Studienabschluss von der angesehensten Investmentbank der Welt übernommen werden würden. Außerdem erwartete man, dass die Praktikanten in den zehn Wochen des Praktikums einen geneigten Mentor fanden und sich diesem als künftigen Mitarbeiter empfahlen. Man musste sich bewähren, und dies selbstverständlich, ohne dabei den feinen Grat zwischen Wettbewerbsdenken und Kollegialität zu verlassen. Das Management hielt stets Ausschau nach Praktikanten, die das Zeug zum «Culture Carrier» hatten – zum «Kulturträger». Das war Goldman-Jargon für einen Mitarbeiter, der den richtigen Umgang mit Kunden und Kollegen beherrschte, um dem Ruf der Firma als Kaderschmiede für Senatoren, Finanzminister und Zentralbankgouverneure gerecht zu werden.
Demütigung war eine Erfahrung, die dieser erlauchte Kreis kaum kannte. Ich war umgeben von Überfliegern, wie sie in den Mensas von Eliteuniversitäten ehrfürchtiges Aufsehen erregten – Studenten, die ihren Hochschulzulassungstest mit voller Punktzahl bestanden hatten, die mit fünfzehn bereits die High School abgeschlossen hatten, im Olympiateam schwammen und zur Entspannung auf Meisterniveau Schach spielten. Und dann war da natürlich noch Mark Mulroney, der Sohn des ehemaligen kanadischen Premierministers. Aber selbst für die Asse war das hier der Härtetest. Wer sich hier behauptete, dem standen künftig Türen von Unternehmen offen, wo man selbst auf mittlerer Managementebene 250 000 Dollar verdiente und Macht und Einfluss besaß.
Mein Vater war Apotheker in Johannesburg in Südafrika, und ich hatte noch nie vom Investmentbankgeschäft gehört, bis ich das Stipendium für die Universität Stanford erhielt und meine Heimat verließ.
Neben Josh vorn am Whiteboard stand noch ein weiterer Praktikant: Adam. Er sollte einer meiner besten Freunde werden und schon bald Milliarden von Dollars in einem Hedgefonds verwalten. Doch zu diesem Zeitpunkt standen die beiden unter Beschuss. Adam war rot angelaufen, aber eher vor Eifer. Er studierte Angewandte Mathematik im Hauptfach, er beherrschte die Materie. Josh dagegen studierte schwerpunktmäßig Englisch und hatte ganz offensichtlich keinen blassen Schimmer.
Das Open Meeting fand zweimal wöchentlich nach Handelsschluss statt, in aller Regel dienstags und donnerstags. Gewöhnlich wurden die neunzigminütigen Sitzungen (nach Rangfolge) von einem Partner, einem Managing Director oder einem Gespann von drei grimmigen Vice Presidents geleitet, die ehrfurchtgebietend vorn an einem langen Tisch saßen. Je nach Laune und Charakter des Federführenden konnten die Sitzungen schlimme Formen annehmen. Nervenaufreibend waren sie immer.
Ein Open Meeting begann pünktlich um achtzehn Uhr – keine Minute später. In der Regel tauchten drei oder vier Teilnehmer erst um
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