Berlin - ein Heimatbuch
wurde (wobei Bücherdrachen angesichts seiner Körperfülle sicher eine treffendere Metapher gewesen wäre. Aber vielleicht kann man sich ja mit dem Ausdruck Bücherlindwurm in der Mitte einigen). Wirklich schlimm und vor allem nervenzerfetzend ist sein zwanghaftes Monologisieren. Dieser Mann redet, von kleinen unbedeutenden Pausen abgesehen, rund um die Uhr und buchstäblich ohne Punkt und Komma.
Ihn morgens als ersten Anrufer am Apparat zu haben, konnte kein gutes Omen für den Rest des Tages sein. Trotzdem drückte ich todesmutig auf die grüne Taste. Und riss den Hörer schon nach wenigen Sekunden so weit wie möglich von meinem misshandelten Ohr weg. In meiner Schlaftrunkenheit hatte ich vergessen, wie unglaublich laut Karl in sein Telefon spricht. Brüllt, genauer gesagt. Bei unserem allerersten Telefonat führte ich diese eindeutig gegen die Genfer Konventionen verstoßende Praxis auf eine falsche Lautstärke-Einstellung meines damals brandneuen Handys zurück. Bis ich, ganz der Technikkenner, nach stundenlanger Lektüre der komplett unverständlichen Bedienungsanleitung zu meinem Entsetzen feststellte, dass die Lautstärke noch vom Werk aus auf die niedrigste Stufe eingestellt war.
Seitdem halte ich bei Telefonaten mit Karl den Hörer zum Schutz meines Trommelfells mindestens eine halbe Armlänge vom Ohr weg. Was allerdings dazu führt, dass ich meinerseits sehr laut in Richtung des gut 30 Zentimeter von meinem Mund entfernten Handys kreischen muss. Eine Art, welche bei Gesprächen im Freien mitunter zu recht abschätzigen Blicken meiner Berliner Mitbürger führt. Ersatzweise auch gern mal zu handfesten Beleidigungen.
Allerdings muss ich zugeben, dass Beleidigungen jeder Couleur in meiner Heimatstadt quasi zum guten Ton gehören. Man begegnet ihnen jederzeit auch im alltäglichen Gedränge in der nach Mondphasen fahrenden S-Bahn oder beim so geselligen wie sportiven Hundekot-Slalom auf Neuköllner Bürgersteigen. Unsere städtische Marketinggesellschaft »Berlin Partner« versucht aus der zum landsmannschaftlichen Charakter gehörenden ruppigen Unfreundlichkeit auftragsgemäß das Beste herauszuholen und vermarktet sie offensiv als »Berliner Schnauze«. Zu den merkwürdigen Besonderheiten der menschlichen Natur gehört es, dass sowohl Ausländer als auch einheimische Auswärtige naiv und/oder masochistisch genug sind, sich mit kindischer Freude von missgelaunten BVG-Mitarbeitern oder gelangweilt herumlungernden Hartz-IV-Klienten maßregeln und bepöbeln zu lassen. Ja, die täglich rund 400.000 Touristen gehen in ihrer unterwürfigen Demut sogar so weit, in rauen Mengen Postkarten mit beleidigenden Sprüchen wie » Wat kiekstn so, Fatzke? « oder dem im Berliner Dienstleistungsbereich allgegenwärtigen kundenfreundlichen Motto » Allet klar, dit kannste gleich ma wieda knicken « zu kaufen. Insofern scheint mir die 2008 gestartete Imagekampagne »be Berlin«, in der die Berliner verlogenerweise als freundliche, weltoffene und hilfsbereite Sippschaft dargestellt werden, unter Marketingaspekten eher kontraproduktiv zu sein. Ist doch der einheimische Nörgelpeter inzwischen offensichtlich eine mindestens genauso attraktive Sehenswürdigkeit wie Schloss Bellevue oder das Brandenburger Tor. Und geldsparend obendrein, denn für unfreundliches Verhalten müssen Berliner nicht extra geschult werden. Was für unsere notorisch klamme Stadt ein Segen ist. Letzten Endes wären kostenaufwendige Freundlichkeits-Schulungen sicher ähnlich aussichtslos wie der Versuch, unserem Wappenbären das Wiehern beizubringen. Es bleibt also dabei: Touristen erkennt man in Berlin nicht nur an sich im Wind verknäulenden Stadtplänen und zu jeder Tages- und Nachtzeit unpassenden Klamotten, sondern insbesondere an ihrer ortsunüblichen aufdringlichen Freundlichkeit. Solch speichelleckendes Liebeswerben haben wir Einheimischen nicht nötig. Schließlich sind wir Hauptstadt!
»be Berlin«
Die Kampagne »be Berlin« des Berliner Senats startete im März 2008 mit dem Ziel, das positive Image der Hauptstadt zu stärken und für diese zu werben. Gemeinsam mit der Deutschen Post wurden zum Beispiel 1.358.205 Infopost-Wurfsendungen an alle Berliner Haushalte versandt. Rund 2.000 Berliner schickten dem Team ihre persönlichen Botschaften, die zusammen als längste Liebeserklärung an Berlin auf 120 Meter langen Ground Stripes ® acht S-Bahnhöfe verschönerten.
2009 wurde die Kampagne mit den Slogans »the place to be« und »be open, be
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