Die Hüterin des Evangeliums
Augsburg,
19./20. Oktober 1518
P ROLOG
Nicht einmal eine anständige Strumpfhose hatte er anziehen können. Um Hüften und Oberschenkel war ein Lederschurz gebunden, der an den Knien endete. Dazu trug er ein einfaches Leinenhemd und einen Mantel aus grobem, kratzigen Stoff gegen die Kälte.
Die Zeit war zu knapp, um eine bessere Garderobe zu besorgen. Seine Mönchskutte und den Ledergürtel hatte er genauso abgestreift wie sein Gelübde. Das vertraute Gewand würde er deshalb in der kleinen Zelle im Karmeliterkloster zurücklassen müssen, ebenso wie jenen Halt, der ihm von seinem Beichtvater gegeben worden war. Er war jetzt allein auf sich gestellt.
Versonnen blieben seine Augen an dem schwarzen Habit hängen. Immerhin war es für fast zwölf Jahre ein Teil seines Selbst gewesen, ein Ausdruck seiner Zugehörigkeit zum Orden der Augustiner-Eremiten. Sie hatte ihm Schutz geboten und ihn stark gemacht, ihn Gott nahe gebracht und seinen Glauben gefestigt.
An seinem Bekenntnis würde sich freilich nichts ändern. Das hatte das dreitägige Verhör durch den römischen Kardinal Cajetan nicht bewirken können, und davon brachten ihn auch die drohenden Konsequenzen seiner eigensinnigen Haltung nicht ab. Diese hatte jedoch zum Dispens und der Entlassung aus seinem Gelübde geführt. Als Frater war er vor vier Tagen gekommen, wie ein einfacher Bauer würde er die Reichsstadt verlassen ...
»Kommt ...«, unterbrach eine leise Stimme seine Gedanken.
Es war keine Zeit für Wehmut oder gar Zaudern. Er war hier nicht mehr sicher. Wenn er jetzt nicht floh, lief er Gefahr, auf dem Scheiterhaufen zu enden. Er riss sich von der Kammer und seinen zurückgelassenen Habseligkeiten los, straffte die Schultern und folgte dem Novizen hinaus, der ihn die ersten Schritte in die Freiheit begleiten sollte.
Sie eilten durch die zu dieser Stunde dunklen Flure des Klosters. Da der eine barfuß und der andere nur mit Filzpantoffeln bekleidet war, bewegten sie sich fast lautlos. Der junge Mönch wies ihm mit einer kleinen Laterne den Weg ...
Unvermittelt zögerte der Flüchtende. Er tastete an den Gürtel, der seine Kniehose in der Taille zusammenhielt – da war nichts. Kein Messer, kein Sporn. Nichts, womit er sich notfalls verteidigen könnte, wenn er überfallen oder aufgegriffen werden sollte.
Der Novize war ihm bereits mehrere Schritte vorausgelaufen. Er wandte sich nach ihm um, seine im Licht der Funzel kaum auszumachende Miene drückte Ungeduld, Ratlosigkeit und Furcht aus. Mit einer Handbewegung forderte er den Gast zur Eile auf.
Statt nach einer Waffe zu fragen, nickte dieser bloß und hastete weiter. Dann musste es eben ohne gehen. Der Junge setzte sein Leben aufs Spiel, indem er ihn heimlich aus dem Kloster führte. Er durfte nichts riskieren, was den anderen noch mehr gefährdete.
Vor einer auf den ersten Blick unscheinbaren, niedrigen Pforte im Mauerwerk endete der Weg. Der Novize drückte das unverschlossene Tor auf. Eisiger Wind pfiff in den Flur, ein Nebel aus Sprühregen wehte herein.
Er legte dem Mönch kurz die Hand auf die Schulter, nickte und hoffte, der Junge würde seine tiefe Dankbarkeit durch den Druck und die Körperwärme spüren. Dann zog er den Kopf ein und trat in die Gasse hinaus.
Um diese Uhrzeit war es ungewöhnlich still in der Stadt. Das Unwetter vertrieb selbst die Bettler, Beutelschneider und Huren. Kein Mensch schien sich in dieser unwirtlichen Nacht auf die Straße zu wagen, nicht einmal Ratten waren zu sehen. Binnen weniger Herzschläge war er bis auf die Knochen durchnässt.
Und nun? Wohin?
Ratlos sah er sich um, konnte durch den Regen nichts anderes erkennen als die Umrisse der hohen, schlanken Bürgerhäuser, deren Fenster wie dunkle Höhleneingänge wirkten.
Von irgendwoher ertönte schwach der Ruf eines Nachtwächters.
Ihm sank das Herz. Man hatte ihm Hilfe versprochen, doch offensichtlich erwartete ihn Unzuverlässigkeit. Ohne die Gefälligkeit eines anderen konnte er nicht entkommen. Die Stadtmauer wurde von schwerbewaffneten Soldaten rund um die Uhr bewacht. Er hatte zwar von einer geheimnisvollen Schlupfpforte gehört, aber er besaß nicht die geringste Ahnung, wo sich diese befinden könnte.
Ein Pfiff schreckte ihn auf. Obwohl der Ton so leise wie das Fiepsen einer Maus war, traf es ihn so durchdringend wie ein Glockenschlag beim Angelusläuten. Er kniff seine tiefliegenden Augen zusammen, konnte schließlich einen vierschrötigen Mann ausmachen, der an einer Hausecke auf ihn
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