Sternenfaust - 171 - Die Ritter der GRAFSCHAFT
Brest, Frankreich,
20. November 1872 (400 Jahre zuvor)
Aurélie blickte mit offenem Mund umher.
Das Lachen von Kindern drang an ihr Ohr, der Geruch von gebratenem Fleisch lag in der Luft, Marktschreier forderten dazu auf, die Stände zu besuchen.
Ein Mann stakste an ihr vorbei. Er lief auf hölzernen Stelzen, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan.
Wenn er umfällt, wird er sich das Genick brechen , dachte Aurélie.
Es schien, als habe eine mystische Welt die Wirklichkeit verdrängt und sich auf dem Marktplatz von Brest niedergelassen. Fremde Klänge, exotische Gerüche, faszinierendes Schauspiel – ihre Sinne wurden überwältigt.
Der Jahrmarkt hatte am gestrigen Tag seine Zelte aufgeschlagen, und die Nachricht hatte sich sofort wie ein Lauffeuer verbreitet.
Schon heute konnte man glauben, sämtliche Einwohner von Brest tummelten sich auf den schmalen Gassen zwischen den Ständen.
Ein Halbwüchsiger schubste sie zur Seite. Lachend rannte er zu seinen Freunden. Aurélie schüttelte den Kopf. Kinder.
Erst sieben Jahren zuvor war der Bahnhof der Stadt fertiggestellt worden. Er verband die Hafenstadt mit Paris.
Aurélie seufzte.
In achtzehn Stunden konnte jeder Bürger das Zentrum Frankreichs erreichen – vorausgesetzt natürlich, er besaß die nötigen Francs. Eines Tages wollte sie ebenfalls dorthin reisen, zusammen mit ihrem Mann, und am besten noch mit einem Sohn oder einer Tochter.
Aurélie trat an einem großen Zelt vorbei. Es war imposanter als die Übrigen. Durch den Eingang erkannte sie eine beeindruckende Menschenmenge, die sich vor einer kleinen Bühne versammelt hatte. Die Leute warteten auf den Beginn der Vorführung.
Auch Aurélie hatte bereits von der Laterna magica gehört, jenem faszinierenden Apparat, der wundervolle Bilder hervorzaubern konnte. Es war einfach unglaublich, zu welchen Wundern die moderne Technik heutzutage fähig war. Gerne hätte sie die Vorstellung ebenfalls besucht, doch heute war sie aus einem anderen Grund gekommen.
Ihr Ziel stand am Rand des Platzes. Aurélie sah einige Männer in groben Anzügen, die verächtlich die Nase rümpften. Trunkenbolde zeigten mit dem Finger auf das unscheinbare Zelt. Sie lachten. Junge Mädchen tuschelten aufgeregt, rannten dann aber kichernd davon, ohne einen Blick durch den offenen Eingang geworfen zu haben.
Aurélie ging weiter, von der grauen Behausung wie magisch angezogen. All die anderen Stände und Zelte interessierten sie nicht länger – nicht heute.
Direkt vor dem Eingang hielt sie inne. Ein starker Geruch drang an ihre Nase. Ein Geruch, der Erinnerungen weckte. Es war wie im letzten Sommer, diese Mischung aus Orange und Flieder.
Erst jetzt bemerkte sie, dass Tränen über ihre Wangen rannen. Der Gedanke an den Sommer brachte schmerzliche Erinnerungen an die Oberfläche.
Schnell zog sie ein Taschentuch hervor und tupfte ihr Gesicht ab.
Schließlich trat sie durch den Eingang.
Das fröhliche Lachen der Menschen blieb hinter ihr zurück, einige Schritte weiter erstarb es völlig.
Langsam schob sie einen blauen Vorhang zur Seite, der den Weg versperrte.
»Du hast dir Zeit gelassen.« Aurélie schreckte auf.
Sie blickte in ein Gesicht, das von tiefen Falten durchzogen war. Die linke Wange wurde von einer Narbe bedeckt.
Sie wusste nicht genau, was sie erwidern sollte. Sollte sie sich über den unangebracht vertraulichen Tonfall beklagen? »Das habe ich wohl«, sagte sie schließlich und versuchte, belustigt zu klingen.
Die Wahrsagerin bedeutete Aurélie, sich zu setzen.
Aurélie atmete tief ein, dann ließ sie sich erschöpft auf den Holzstuhl sinken. Es war ihr peinlich, dass ihre Hände zitterten, deshalb hielt sie sie unter der Tischkante verborgen.
Nun hatte sie genug Ruhe, das Medium genauer zu betrachten. Die Frau trug ein langes Kleid aus grobem Stoff. Hals und Handgelenke waren mit Ketten behangen, etliche Ringe zierten ihre Finger. Die braunen Haare wurden von einem Tuch bedeckt, und im Nacken lugte ein Zopf hervor. Die Frau mochte Anfang vierzig sein, doch ihre Augen …
Aurélie erschauderte. Sie verströmen tatsächlich den Atem der Ewigkeit. Vielleicht ist sie genau die Person, die mir helfen kann.
»Ich …«, Aurélie sammelte sich. »Ich bin hier, um etwas Wichtiges zu erfahren … über meine Zukunft.«
Die Frau lächelte. Sie griff nach einer Schale und zog sie heran. Darin lagen bereits etliche Francs. Aurélie nickte verstehend. Sie kramte ihre Geldbörse hervor – einen
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