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Berliner Zimmer - Roman

Berliner Zimmer - Roman

Titel: Berliner Zimmer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haymon
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weder mit Spott noch mit gutem Zureden gelang es, ihn auf den Weg einer nüchternen Betrachtungsweise zurückzuführen. Mir fiel Gregors Politikergesicht ein, das noch vor sieben Monaten von sämtlichen Plakatwänden der Stadt heruntergelächelt hatte, mit einem verschmitzten, fast weisen Zug um die Mundwinkel. Aber das war jemand ganz anderes gewesen, eine Person, die nur zufällig denselben Namen wie mein Bruder trug.
    „Er ist tot“, sagte ich, „das hättest du diesem Kerl sagen sollen, tot, tot, tot.“
    Gregor riss seine blauen Augen noch weiter auf und ich konnte nicht widerstehen, noch eins draufzusetzen.
    „Und wenn das alles nicht zutrifft, hättest du ihm ins Gesicht sagen sollen, dann muss etwas passiert sein, das du, Gregor, nicht mehr verstehen kannst. Die biblische Apokalypse oder so etwas Ähnliches. Stattdessen versteckst du dich verängstigt in deinem eigenen Haus und wartest, bis dein toter Vater, oder wer immer der Mann vor deiner Haustür auch war, den Rückzug antritt, ohne irgendeine Erklärung. Du bist doch sonst nicht so ein Hosenscheißer!“
    Ich war gleich losgefahren, nachdem mein Bruder mich angerufen hatte, und es war kurz vor Mittag, als ich über den aufgeweichten Rasen vor seinem Haus am noblen Stadtrand ging. Ich klingelte und Angelina, die immer noch wie zum morgendlichen Jogging angezogen war, machte mir auf. Sie verdrehte ihre Augen und ließ mich wortlos ein.
    Gregor saß weit hinten im Wohnzimmer und stierte in seine Teetasse. Er trug einen blauen Trainingsanzug, ähnlich wie Angelina, und darüber eine Strickweste, wie sie die alten Männer in unserer Kindheit getragen hatten.
    „Vielleicht bin ich verrückt“, sagte er mit vorsichtiger Stimme, als ich ihn bat, seine Halluzination noch einmal zu schildern, „aber ich kenne ihn doch. Ich weiß, wie er aussieht.“
    Gregor bemühte sich, das Wort Vater nicht in den Mund zu nehmen. Immerhin sprach er von Vaters Geist, der ihn so erschreckt hatte. Über die Videoanlage und dann aus seinem Versteck hinter den Gardinen des Schlafzimmers hatte er beobachtet, wie der Mann schließlich den Rückzug antrat und über die Steinplatten des Aufgangs zur Zufahrtsstraße zurückging.
    „Mit dem Elan eines Zwanzigjährigen“, brach es aus Gregor heraus, und in seine Stimme mischte sich ein Ton der Empörung.
    „Und weiter?“, fragte ich.
    „Dann war er verschwunden“, Gregors Stimme ging nach oben, „aber ich weiß genau, er kommt wieder.“
    „Hör zu“, sagte ich zu Gregor, fasste ihn dabei mit beiden Händen an den Oberarmen und blickte ihm in die Augen, um sicherzugehen, dass er mich verstand.
    „Hör zu“, sagte ich, „wer immer das war – unser Vater ist tot. Er ist im Spital gestorben, du warst zwar nicht dabei, aber die Nachtschwester hat es mit eigenen Augen mitansehen müssen, wie er seinen letzten verzweifelten Atemzug machte. Ich habe mit ihr geredet und ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass sie mir die Wahrheit gesagt hat.
    Sie heißt Irina und du kannst sie jederzeit fragen“, fügte ich hinzu, und Gregor nickte vorsichtig. Dass ich diese Begegnung erfand und sich Vaters Tod ein wenig anders abgespielt hatte, wie ich auch erst später erfuhr, war im Moment nicht von Bedeutung.
    „Und zweitens, der Amtsarzt“, sagte ich. „Der hat die Pflicht, einen Totenschein auszustellen. Und damit man nicht einen Scheintoten beerdigt, ist der Arzt gesetzlich verpflichtet, sich den Toten nach vierundzwanzig Stunden noch einmal genau anzusehen. Er schiebt ihm das Hemd hoch und schaut nach, ob sich die typischen Totenflecken gebildet haben. Und ich hab das alles gesehen, Gregor“, flunkerte ich weiter, „ich habe sogar dem Arzt geholfen, Vater auf den Rücken zu drehen. Und die amtliche Todesbescheinigung hast du selbst in Händen gehalten. Ist es nicht so?“
    Ich redete wie ein Politiker, wie seinesgleichen also, und Gregor nickte und sagte nichts.
    „Ein Doppelgänger“, sagte ich und legte meine Hand auf seinen Unterarm, „davon hat man schon gehört.“
    Gregor sagte immer noch nichts. Er blickte stirnrunzelnd auf seinen Tee, den er kaum angerührt hatte, und dann zu mir. Es sah aus, als lieferten sich in ihm seine Sinneseindrücke einen stummen Kampf mit der Logik. Durch die Terrassentür des Wohnzimmers fiel ein plötzlicher Sonnenstrahl auf den Parkettboden und ließ den Raum aufleuchten, doch Gregor nahm nichts davon wahr.
    Angelina hatte von ihrem Fensterplatz aus stumm zugesehen, wie ich versuchte,

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