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Berliner Zimmer - Roman

Berliner Zimmer - Roman

Titel: Berliner Zimmer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haymon
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Ledertasche, mit einer Schlaufe am Handgelenk zu tragen, eine Brieftasche für Ausweise, Ermäßigungskarten und Führerschein und zusätzlich ein Portmonee für die größeren Scheine. Das Münzgeld kam in eine kleine Klapptasche, die in der Ledertasche am Handgelenk ihren Platz fand.
    In seinen letzten Monaten aber war Vaters Ordnungswut allmählich geschrumpft und schließlich fast ganz verschwunden, was ich mit zunehmender Bestürzung feststellte. Es schien, als hätte die Bestrahlungstherapie, der man seinen Kopf aussetzte, gerade auf dieses eine Areal in Vaters Hirn gewirkt und die Zellen, die für Organisation und Gründlichkeit zuständig waren, verdampfen lassen. Oder es war die Krankheit selbst und seine Beschäftigung damit, was alles andere unwichtig machte.
    Wenn ich Vater nach der Therapie im Krankenhaus abholte, stand er verloren im letzten Gang, seine Reisetasche neben sich auf dem Boden. Manchmal war es auch eine simple Papiertragetasche mit dem Aufdruck eines Delikatessengeschäfts der Stadt, und wenn ich ihn fragte, ob er alles bei sich habe, seine Brieftasche, seine Toilettentasche, hörte er gar nicht richtig hin. Auch seine Uhr trug er kaum noch und fragte zwischendurch andere Leute, wie spät es denn sei.
    Ich brauchte einige Zeit, bis ich den Gedanken zulassen konnte, dass das nicht mehr mein Vater war, der Vater, der alles besser wusste, weil er um so vieles älter war als ich. Jetzt war es umgekehrt. Ich war der Erfahrene, ich war der, der ihm zeigte, wo es zum Aufzug ging oder zur Toilette, und er war das Kind. Und wie ein verwirrtes Kind wirkte er manchmal auch, wenn er am Ende des Krankenhausflurs wartete, dass man ihn abholte. Ich sah ihn von weitem, er ging in kleinen Trippelschritten auf und ab und fragte die Vorbeikommenden nach der Uhrzeit. Dann setzte er sich hin, nur um gleich darauf wieder aufzustehen. Er kreiste rund um die zwei Sessel, die hier aufgestellt waren, bewegte sich innerhalb von vier Quadratmetern, als hätte er Angst, sich zu verlieren. Vielleicht war es auch so. Trotzdem zeigte er keinerlei Freude oder Erleichterung, wenn er einen dann bemerkte.
    Eines Tages kam ich viel zu spät, als ich ihn abholen sollte. Auf dem Pass war ein ungarischer Reisebus in die Tiefe gestürzt, die Polizei hatte die Straße gesperrt und ich hatte einen weiten Umweg durch die Wälder fahren müssen. Als ich aus dem Aufzug in den Gang der Radiologie stürmte, saß Vater nicht da, wo er sonst wartete, sondern ganz hinten auf einer Liege vor dem abgedunkelten leeren Schwesternzimmer.
    Ich winkte ihm von weitem und eilte auf ihn zu. Er aber reagierte nicht. Als ich näher kam, bemerkte ich, dass er die Augen geschlossen hielt.
    „Was machst du?“, fragte ich.
    „Ich stell mir das Dunkel vor“, sagte er, ohne die Augen zu öffnen.
    „Das Dunkel?“, wiederholte ich fragend.
    „Für später“, sagte er, machte langsam die Augen auf und blickte mich an.
    „Ach, du bist es“, sagte er dann und rutschte von der Liege.
    Ich nahm seine Tasche und er folgte mir widerstandslos. Wortlos, mit kurzen Schritten ging er neben mir zum Aufzug. Ich hatte damit gerechnet, dass er mir wegen meiner Verspätung Vorwürfe machen würde, aber nichts.
    Als wir die Eingangshalle des Krankenhauses verließen und ins reale Dunkel der Parkgarage tauchten, fragte ich ihn: „Was heißt das, für später?“
    „Ach“, sagte er, „wozu soll ich dir das erklären. So viel Zeit hab ich gar nicht.“
    Dann standen wir vor meinem Wagen, ich legte die Papiertasche (warum war sie so leicht?) in den Gepäckraum, Vater setzte sich, entgegen seiner sonstigen Gewohnheit, auf den Rücksitz und schwieg weiter. Ich beobachtete im Rückspiegel, wie er durch das Seitenfenster nach draußen starrte, und als wir schon beinahe zu Hause waren, sagte er unvermittelt: „Eigentlich ist es unvorstellbar.“
    „Was?“
    „Das Dunkel.“
    „Ja, du hast recht“, sagte ich und wartete darauf, dass er mir zu verstehen gab, dass ich auch das noch nicht verstünde.
    Wir hätten Mama längst zum Arzt bringen müssen. Ihre Vergesslichkeiten hatten zugenommen in letzter Zeit, genauso wie das plötzliche Stocken mitten im Satz und das Suchen nach Wörtern. Es liegt mir auf der Zunge, sagte sie, und bedankte sich grimmig, wenn man ihr den Satz vollendete oder das verlorene Wort einsetzte. Die Haushaltshilfe, die dreimal die Woche kam und das Nötigste für sie besorgte, hatte Angelina mehrmals angerufen und sie auf Mamas sich

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