Berndorf, Jacques (Hrsg)
noch eine Frau in den Innenräumen des Cafés, ganz am anderen Ende, in die Lektüre der Speisekarte vertieft. Aber sie ging, als ich kam. Wahrscheinlich machte ihr mein irrer Blick Angst. Im Vorbeigehen sah ich ihre roten Haare unter der Baskenmütze, und kurz keimte ein Verdacht in mir auf, aber sie war zu alt für Christians Beuteschema.
Wenn man an den Teufel denkt ...
»Mein Gott, ich habe eben davon gehört! Karl hat angerufen und mir alles erzählt.« Christian ließ sich außer Atem neben mir nieder. Er trug tatsächlich einen Trench mit hochgeschlagenem Kragen. Man sagt ja immer, dass Alkohol die Sinne benebelt, aber mir wurde in diesem Moment kristallklar, dass Christian ein Idiot war und ich auch, weil ich ihn immer noch (fast) unwiderstehlich fand. Vor allem in diesem Augenblick. Wo er aus jeder Körperpore Besorgnis verströmte und meine Hände an seine Lippen zog und mir Küsse auf die heiße Haut hauchte.
»Du darfst jetzt nicht aufgeben!«, verlangte er mit zittriger Stimme. »Mein Leben ist in Gefahr. Wenn mir etwas passieren sollte ... all die Kunstwerke, die dann ungemalt blieben ...«
Aha. Die Handküsse waren reine Automatismen, das machte er immer, wenn er mit einer Frau vor einem Kamin saß. Und die Besorgnis seiner Körperporen galt nur sich selbst. Ich war ernüchtert. Aber nicht nüchtern.
Nur so ist es zu erklären, dass ich »Was man anfängt, soll man auch beenden, ich schnüffele noch ein bisschen weiter« lallte und ihm einen Kuss auf den Mund drückte.
Dann lehnte ich mich zurück, mein Kopf sackte in den Nacken und gleich darauf war ich eingeschlafen.
Ganz in der Nähe von Kronenburg ist die Kyll zu einem Hochwasserrückhaltebecken aufgestaut, dem Kronenburger See. Als ich am späteren Nachmittag mit vom Sitzschlaf steifen Gliedern dort eintraf, sah man nichts als das saftige Grün der Bäume und das funkelnde Blaugrün des Wassers und die goldenen Sonnenstrahlen. Die Eifel von ihrer schönsten Seite. Ich machte ein Handyfoto.
Egon erkannte ich aufgrund der Beschreibung seines Nachbarn Karl-Friedrich gleich. Sieht aus wie ein Eichhörnchen, hatte Karl-Friedrich gesagt, und tatsächlich, vor dem Kiosk saß ein unbefelltes Eichhörnchen und las die Eifelzeitung.
»Ich komme wegen der anonymen Briefe«, flüsterte ich, wie eine Geheimagentin ein Codewort flüstern würde.
»Nicht hier«, flüsterte Egon zurück.
Wir hatten offenbar dieselben Filme gesehen.
Wir machten uns auf den Rundweg um den See. Eine Zeitlang spazierten wir schweigend, zu viele potenzielle Mithörer, selbst an diesem Werktag außerhalb der Ferienzeit, doch irgendwann waren wir allein auf weiter Flur.
»Wann immer möglich, bin ich hier am See. Ich liebe die freie Natur.« Egon war ein vom Hals abwärts sehr distinguiert wirkender Pensionär in einem strahlend weißen Leinenanzug. Weiß schien die Kronenburger Lieblingsfarbe zu sein. Vom Hals aufwärts war es mit der Distinguiertheit nicht allzu weit her. Der Eichhörncheneindruck kam daher, dass er unablässig Kekse aus einer mitgeführten Plastiktüte in seine Wangen stopfte. Er kaute nicht, er stopfte sich nur die Wangen aus. Wahrscheinlich wurden die Kekse vom Speichel zersetzt.
»Sie haben also auch diese anonymen Briefe bekommen?«, wollte ich wissen.
Er nickte. »Sehen Sie mein Profil?«, fragte er mich.
Ich sah es. Ein Eichhörnchenprofil.
»Ich bin mit dem Grafen Kuno von Manderscheid-Schleiden verwandt.«
Adel? Mein Interesse war geweckt. Gut, ich hätte mir gern etwas Herzoglich-Fürstlich-Prinzenhaftes gewünscht, aber ein Graf tat es auch.
»Es gibt ein Steinrelief von Kuno aus dem frühen 16. Jahrhundert. Und die Ähnlichkeit ist frappierend. Vor allem die Nase! Das ist doch die Manderscheid-Nase, nicht?«, meinte er kokett und drehte seinen Eichhörnchenkopf von links nach rechts und wieder zurück.
Ich sagte besser nichts.
Egon strahlte und stopfte sich eine neue Ladung Kekse in die Wangen. »Kuno von Manderscheid gab 1492 die Anregung zum Bau der Pfarrkirche. Ein wichtiger Mann. Ein großer Mann. Ich bin sein Nachkomme. Ja gut, 1780 erlosch die Familie Manderscheid im Mannesstamm, aber meine genealogischen Forschungen stimmen mich zuversichtlich, dass ich in direkter weiblicher Linie mit Kuno verwandt bin.«
»Und damit kann man erpresst werden?« Ich blickte es nicht.
Egon zog eine Schnute. «Möglicherweise habe ich bei meinen genealogischen Forschungen hin und wieder ...« Es fiel ihm sichtlich schwer, es
Weitere Kostenlose Bücher