Berndorf, Jacques (Hrsg)
ganzes Gesicht hätten abdecken können. Er hatte lange, gepflegte Fingernägel. Vielleicht ein Gitarrenspieler oder sogar Rockstar?
Genau eine Stunde blieb er. Ständig schrieb er in dem Heft herum und stoppte die Zeit. Ab und zu sah er aus dem Fenster.
Am nächsten Tag kam er zu meiner Freude wieder. Ich war spät dran, und er kam bereits um die Ecke, als ich das Café aufsperrte. Wieder bestellte er einen Kaffee und ein Brötchen mit Butter. Diesmal ließ ich alle Knöpfe zu.
Obwohl ich einen Höllenrespekt vor dem Kerl hatte, hielt ich es nach zwei Wochen nicht mehr aus. Meine Neugier war stärker geworden als meine Angst, eine Eigenschaft, die mich noch mal irgendwann das Leben kosten wird.
»Was schreiben Sie denn da in diese Hefte?«, fiepste es aus mir heraus, als hätte ich diese Frage vor dreihundert Leuten gestellt. Ich spürte, wie meine Wangen den Rotton meiner Samstagnacht-Ausgeh-Plateau-Sandaletten annahmen. Wie peinlich.
»Sudoku.«
Sudoku, das war alles, was er sagte. Sudoku sagte mir zu diesem Zeitpunkt nichts. Abends googelte ich im Internet. Anscheinend war da mal wieder ein Trend an mir vorbeigegangen. Sudoku, ein Kreuzworträtsel für Zahlenliebhaber. Obwohl ich mich wirklich anstrengte, schaffte ich es nicht, eines dieser Rätsel auf der Internetseite zu lösen. Mein Stammgast, den ich in diesem Moment »Sudoku-Man« taufte, stieg in meinem Ansehen. Ein schlauer Kerl, dachte ich mir. Vielleicht konnte ich von dem noch mal was lernen.
Das Ritual von Sudoku-Man zog sich über ein Jahr hin. Ich liebte die Stunde zwischen 8 und 9 Uhr, in der er mit seinen Rätseln am Fenster saß. Durch intensives Beobachten fand ich heraus, dass er jedes Mal die Zeit stoppte, die er benötigte, um ein Sudoku zu lösen. Wenn er besonders schnell war, konnte man mit viel gutem Willen ein Lächeln auf seinen schmalen Lippen erkennen, welches mir gut gefiel.
Auch bemerkte ich, dass er es mochte, wenn ich sein Brötchen besonders dick mit Butter bestrich. Ich hatte dann das Gefühl, dass er mir sogar auf meinen Hintern schaute. Dabei erwischt habe ich ihn allerdings nie.
Der gestrige Tag veränderte dann mein Leben. Sudoku-Man saß bereits rund 20 Minuten im Café, als ein kleiner, schmächtiger Mann mit einem Rucksack die Tür öffnete. Er war sehr nervös, schaute um sich wie ein aufmerksames Erdmännchen. Während er an der Garderobe stand, betrachtete er mich mit Argwohn. Aber auch der lüsterne Blick auf meinen Minirock entging mir nicht.
Der Neue setzte sich zu Sudoku-Man. Ich öffnete die ersten beiden Knöpfe meiner Bluse und ging zum Tisch hinüber. »Milchkaffee mit viel Milch«, zischte es durch wenig Zähne. Diesmal verfehlten meine Brüste ihre Wirkung nicht. Ich merkte, wie die Blicke des Neulings mir auch noch lange nach der Bestellung folgten.
Die beiden Männer unterhielten sich im Flüsterton. Sie stoppten sofort das Gespräch, als ich den Kaffee brachte. Dennoch bekam ich mit, dass sie sich am Mittag noch einmal treffen wollten. Draußen hörte man eine Polizeisirene.
Ohne einen Schluck von dem Kaffee zu trinken, verließ der Neuling abrupt das Café. Auch Sudoku-Man blieb an diesem Morgen nicht bis 9 Uhr. Rund zwanzig Minuten später stand er plötzlich vor mir. Er zahlte – zum Glück auch den Kaffee von seinem Bekannten – und gab mir das erste Mal, seitdem er aufgetaucht war, Trinkgeld. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich Sudoku-Man nie wiedersehen würde.
Heute war ich schon um 7 Uhr im Café. Ich hielt es zu Hause nicht mehr aus. Wenn Sudoku-Man doch nur noch ein letztes Mal auftauchen könnte, dann würde ich ihn fragen, ob er mich nicht mitnimmt, egal wohin, einfach nur weg.
8 Uhr.
8.15 Uhr.
Scheiße, Mann, er wird nicht wiederkommen. Mal wieder eine Gelegenheit so etwas von verpatzt. Ein Jahr hattest du Zeit, du dumme Vorstadtpunze.
Ich nahm die Zeitung vom Tisch. Seit einem Jahr hatte ich sie nicht mehr morgens gelesen, zu beschäftigt war ich gewesen, Sudoku-Man zu beobachten.
Mord in Meckenheim
. Mein Gesicht hätte ich selbst gerne gesehen, als ich ein Foto von Sudoku-Mans schmächtigem Bekannten auf der Titelseite sah. Laut der Bildzeitung war der Bekannte von Sudoku-Man übel zugerichtet und schlecht verbuddelt in einem Meckenheimer Waldstück um 17 Uhr gefunden worden. Der Mann hatte vor einiger Zeit einen Bankraub mit einem Freund verübt. Während der Freund nie identifiziert worden war, suchte man Sudoku-Mans Bekannten schon rund eineinhalb Jahre.
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