Berndorf, Jacques (Hrsg)
klinke ich einen meiner drei Arme aus, als er gerade nach unten zeigt, lasse ihn schnell wie einen Pfeil zu Boden schießen, sodass er den Menschen, der sich immer noch den Hals nach mir verrenkt, der Länge nach aufspießt.
Der Schrei, der ungehört in der Einöde verhallt, verfängt sich zwischen meinen verbliebenen Armen und steigt mir zu Kopfe. Er klingt wie Musik. Das Lied der Freiheit.
Nach diesem Vorstoß bin ich nicht mehr drehfähig. Aber das war es mir wert.
Nach ein paar Tagen der Unruhe und großen Empörung unter den Menschen werden auch meine Freundinnen stillgelegt, und dann werden wir alle abgebaut. Ich habe gehört, wir sollen tatsächlich ans Meer verschickt werden. Wenn ich eines Tages das Meer nicht mehr sehen kann, mache ich das wieder so, das Armausklinken. Eigentlich müssten mir alle dankbar sein, aber einige maulen herum.
»Es ist doch so schön hier in der Eifel!«, jammert Mechthild.
»Ich reise nicht gern«, meint Gabriele.
Einige haben Angst, wir werden getrennt. Andere fürchten, man wird Flugzeugpropeller oder Schiffsschrauben aus unseren Armen machen, Brückenpfeiler aus unseren Beinen. Aber so ist es nicht.
Wir werden in Einzelteilen auf einen großen Haufen gestapelt und dann abtransportiert. Es geht nicht auf direktem Wege ans Meer. Wir kommen zunächst auf einen noch größeren Haufen zerlegter Windräder. Noch sind wir in der Eifel, aber es dauert sicher nicht mehr lange, und wir treten die große Reise ans Meer an.
Sudoku-Man
von T HOMAS K IEHL
Kennen Sie New York? Wenn nicht, kein Problem. Ich kenne New York auch nur von Fotos und aus dem Fernsehen. Stellen Sie sich New York vor, ohne Wolkenkratzer, ohne Meer, ohne Freiheitsstatue, ohne große Straßen, ohne Autos, ohne Menschen. Was Sie nun vor sich sehen, kommt dem Ort, in dem ich aufgewachsen bin, schon sehr nahe – 53359 Hilberath. Hilberath, das »Tor zur Eifel«. Für mich war es immer nur das Tor zur Hölle. Jetzt arbeite ich in Meckenheim. Auch nicht viel besser. Wäre ich mal lieber nach Rheinbach gezogen, da gibt es wenigstens einen
Burger King
. Meckenheim ist so ein richtiger Ort zum Untertauchen. Hier findet einen niemand, weil niemand da ist, der einen finden könnte. Ab morgen bin ich weg von hier – das ist so was von sicher.
Eifelturm
, so heißt das Café, in dem ich arbeite. Eifelturm wohlgemerkt mit einem F. Ich arbeite hier schon so lange, dass mir eigentlich eine Betriebsrente zustehen müsste. Aber so etwas gibt es in der Eifel nicht. So etwas gibt es nur in großen Städten wie Bonn, Aachen – oder eben New York.
Das Café liegt in der Nähe vom Bahnhof – quasi auf der 5th Avenue von Meckenheim – in der, wie könnte sie auch anders heißen, Bahnhofstraße. Die Inneneinrichtung ist aus den 80er Jahren. Schwarze Stühle, schwarze Tische, schwarzweiße Fliesen, ungeschickt angebrachte Halogenscheinwerfer, ein paar Spiegel, SchwarzWeiß-Fotos von Paris, unter anderem auch eines vom Eiffelturm. Richtig gemütlich also.
Da die Miete eh gezahlt werden muss, öffnen wir schon um 8 Uhr. Mir ist das ganz recht, denn so komme ich wenigstens zum Zeitunglesen. Um die Zeit kommt nämlich keiner in das Café, zu eilig haben es die Menschen, Meckenheim mit der Bahn so schnell wie möglich zu verlassen.
Dies änderte sich vor einem Jahr. Vor einem Jahr nämlich stand um Punkt 8 Uhr ein schwarz gekleideter Mann im Café. Schwarzer Trenchcoat, schwarze, geschnürte Lederhose, Sonnenbrille, lange, schwarze Haare. Ob ich ihm weiterhelfen könne, fragte ich ihn. Mir war klar, dass dieser Großstadt-Cowboy sich verlaufen haben musste. So wie der angezogen war, suchte er bestimmt die Straße seiner verstorbenen Tante, dachte ich mir.
»‘n Kaffee und ‘n Brötchen mit Butter.« Ohne auf eine Reaktion von mir zu warten, setzte sich der Typ an einen Tisch am Fenster. Er hatte eine schwarze Ledertasche dabei, aus der er ein Heft und eine Stoppuhr zog. Ich brachte dem Mann seinen Kaffee und sein Brötchen mit Butter.
Okay, ich bin vielleicht nicht die Schönste im Lande, aber einen kurzen Blick auf meine Brüste hatte ich eigentlich schon erwartet. Hallo, ich öffne doch nicht umsonst die beiden obersten Knöpfe meiner Bluse und beuge mich so tief herunter, dass ich seinen Fußschweiß riechen kann. Der Typ jedoch verzog keine Miene, würdigte mich nicht mal eines kleinen Blickes. Ich hingegen musterte ihn sehr genau. Er war groß und stark. Seine Hände waren leicht gelblich und so riesig, dass sie mein
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