Beute
dachte ich an Julia, gespenstisch bleich und papierdünn, wie sie »Rette meine Kleinen« flüsterte. Ich dachte an die Kinder, die zu Hause auf mich warteten. Ich sah sie am Tisch sitzen und auf das Abendessen warten. Und ich wusste, ich musste durchhalten, um jeden Preis. Also hielt ich durch.
Ich weiß nicht genau, was mit Ricky passierte. Irgendwie schaffte er es, meine Beine von der Sprosse zu ziehen, und ich hing an den Armen in der Luft und trat wild um mich, und sehr wahrscheinlich traf ich ihn mitten ins Gesicht und brach ihm die Nase.
Denn gleich darauf ließ Ricky mich los, und ich hörte ein Klong-klong-klong, als sein Körper die Leiter hinunterrutschte und er verzweifelt versuchte, im Fallen die Sprossen zu pakken. Ich hörte: »Ricky, nein!«, und die Wolke verschwand von meinem Kopf, und ich war wieder völlig frei. Ich blickte nach unten und sah den Julia-Schwarm in Höhe von Ricky, der sich gut drei Meter über dem Boden hatte abfangen können. Er starrte wütend hoch. Aus seinem Mund und der Nase sprudelte Blut. Er wollte wieder hochklettern, aber der Julia-Schwarm sagte: »Nein, Ricky. Nein, das schaffst du nicht! Lass Vince das machen.«
Und dann kletterte Ricky halb fallend nach unten, und der Schwarm nahm wieder Julias blassen Körper in Besitz, und die beiden standen da und beobachteten mich.
Ich wandte den Blick von ihnen ab und schaute nach oben.
Vince stand knapp anderthalb Meter über mir.
Seine Füße waren auf den obersten Sprossen, und er beugte sich vor und versperrte mir den Weg. Ich hatte keine Chance, an ihm vorbeizukommen. Ich hielt inne und überlegte, verlagerte mein Gewicht auf der Leiter, hob ein Bein zur nächsten Sprosse, hakte meinen freien Arm um die Sprosse vor meinem Gesicht. Doch als ich das Bein anzog, spürte ich einen Gegenstand in meiner Tasche. Ich hielt inne.
Ich hatte noch ein Phagen-Röhrchen.
Ich griff in die Tasche, holte das Röhrchen hervor und zeigte es ihm. Ich zog den Korken mit den Zähnen heraus. »He, Vince«, sagte ich. »Wie wär’s mit einer Fäkaldusche?«
Er rührte sich nicht. Aber seine Augen verengten sich.
Ich stieg eine Sprosse höher.
»Mach lieber, dass du wegkommst, Vince«, sagte ich. Ich musste so heftig keuchen, dass meine Stimme nicht so richtig bedrohlich klang. »Verschwinde, bevor du nass wirst …«
Eine Sprosse weiter. Ich war nur noch drei Sprossen unter ihm.
»Deine Entscheidung, Vince.« Ich hielt das Röhrchen in der Hand. »Von hier aus kann ich zwar dein Gesicht nicht treffen. Aber deine Beine und Schuhe garantiert. Macht dir das nichts aus?«
Eine Sprosse weiter.
Vince blieb, wo er war.
»Offenbar nicht«, sagte ich. »Du lebst gern gefährlich?«
Ich hielt inne. Wenn ich noch eine Sprosse höher stieg, konnte er mich gegen den Kopf treten. Wenn ich blieb, wo ich war, würde er schon zu mir kommen müssen, und ich könnte ihn packen. Also rührte ich mich nicht von der Stelle.
»Was ist nun, Vince? Bleibst du, oder gehst du?«
Er runzelte die Stirn. Seine Augen huschten hin und her, von meinem Gesicht zu dem Röhrchen und wieder zurück.
Und dann trat er von der Leiter zurück.
»So ist es brav, Vince.«
Ich stieg eine Sprosse höher.
Er war so weit zurückgewichen, dass ich nicht mehr sehen konnte, wo er war. Wahrscheinlich hatte er vor, mich oben zu überrumpeln. Also stellte ich mich darauf ein, den Kopf einzuziehen und zur Seite zu schwingen.
Letzte Sprosse.
Und jetzt sah ich ihn. Er wollte mir nichts. Vince zitterte vor Panik, ein in die Enge getriebenes Tier, das sich in die Dunkelheit des Laufganges verkrochen hatte. Ich konnte seine Augen nicht erkennen, aber ich sah, dass sein Körper bebte.
»Okay, Vince«, sagte ich. »Ich komme hoch.«
Ich trat auf die Gitterplattform. Jetzt stand ich direkt oben an der Leiter, umgeben von dröhnenden Maschinen. Keine zwanzig Schritte entfernt sah ich die beiden Stahltanks für die Sprinkleranlage. Ich blickte nach unten und sah Ricky und Julia, die zu mir hochschauten. Ich fragte mich, ob ihnen klar war, wie nah ich meinem Ziel war.
Ich blickte wieder zurück zu Vince und sah gerade noch, wie er von einem Kasten in der Ecke eine halb durchsichtige, weiße Plastikplane zog. Er wickelte sie um sich wie einen Schild und griff dann mit einem gutturalen Schrei an. Ich stand am Rand der Leiter. Mir blieb keine Zeit auszuweichen. Ich drehte mich bloß seitlich und stemmte mich gegen ein gut einen Meter dickes Rohr, um die Wucht des Aufpralls
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