Beutewelt 04 - Die Gegenrevolution
vermisst und wie weit hatten ihn die Ereignisse der letzten Zeit von Ivas weggetragen.
In den alten Häusern, die ihn umringten, brannten heute Abend nur wenige Lichter und es wurde immer düsterer. Das Licht des Mondes konnte die dicken Vorhänge aus Regenwolken am Himmel kaum noch durchdringen. Frank schlenderte weiter und ging zum kleinen Friedhof.
Von Gras überwucherte Grabsteine mit kyrillischen Inschriften bedeckten die in Dunkelheit gehüllte Wiese. Es waren die Gräber der ehemaligen Einwohner des Dorfes, die hier schon lange vor sich hin verfielen und längst vergessen waren. Lediglich acht Grabsteine auf diesem Feld waren jüngeren Datums. Die meisten der neueren Einwohner von Ivas, die unter Wildens Leitung hier nach Litauen gekommen waren, lebten noch. Ein älteres Ehepaar war zwischen den Jahren 2031 und 2033 hier verstorben und beerdigt worden, weiterhin sechs junge Männer. Letztere waren alle bei den politischen Auseinandersetzungen der letzten Zeit getötet worden. Frank hatte sie nur flüchtig gekannt. Bis auf einen jedenfalls: Sven Weber, seinen guten Freund.
Zudem gab es noch zwei weitere junge Burschen aus Ivas, die ihr Leben ebenfalls im Befreiungskampf gelassen hatten: Thomas Baastfeldt und Dennis Müller. Doch ihre Körper waren irgendwo fern der Heimat verscharrt und nicht mehr nach Hause überführt worden.
„In welchem Massengrab in Ostasien verrottet ihr, meine Brüder?“, sagte Frank leise und musste an die beiden Freiwilligen des japanischen Krieges denken.
Dann stellte er sich vor das Grab seines Freundes Sven, dessen grauer Stein ihn stumm ansah. Er hockte sich ins nasse Gras und strich mit seiner Hand über die Halme.
„Das hast du jetzt davon, mein Freund. War es das alles wert?“, flüsterte Kohlhaas und betrachtete die Gräber um sich herum. Dann versank er für einen kurzen Augenblick in Gedanken und schwieg.
„Ach, Sven …“, murmelte er schließlich und wischte sich eine Träne aus dem Auge. „Vielleicht liege ich schon morgen neben dir und habe auch meine Ruhe.“
Nachdem Frank einige Minuten vor dem Grab seines Freundes gestanden und nachgedacht hatte, ließ er den dunklen Friedhof wieder hinter sich und ging zurück ins Dorf. Zu Hause angekommen öffnete er eine Flasche Schnaps und leerte sie mit einigen kräftigen Zügen. Eine weitere folgte. Irgendwann schlief er einfach ein und träumte in dieser Nacht von nichts.
Am nächsten Tag ging er zur Mittagszeit zum Haus der Familie Wilden, um Julia zu besuchen. Als ihm die Frau des Außenministers die Tür öffnete, begrüßte sie Kohlhaas freudestrahlend.
„Julia ist oben!“, sagte Agatha.
Frank rannte die Stufen hinauf und näherte sich schüchtern dem Zimmer seiner Angebeteten. „Julia?“
„Komm rein!“, hallte es durch den Flur.
„Hallo! Ich wollte mich nur mal kurz sehen lassen!“, meinte Frank.
„Ja, ich weiß!“, bekam er nur zu hören.
Verdutzt zuckte Kohlhaas zusammen. „Freust du dich denn nicht?“
„Doch, natürlich!“, antwortete die junge Frau und sah ihn traurig an.
„Ich weiß, ich lasse mich fast gar nicht mehr blicken!“
„So ist es!“
„Irgendwann ist der ganze Mist vorbei …“
„Ja, wenn du tot bist!“, sagte Julia und stand auf.
„Mich macht so schnell keiner tot!“, konterte Frank.
Julia schüttelte den Kopf. „Nein, natürlich nicht! Du bist ja der große Held. Ich lese von dir in den Zeitungen – wie tapfer du bist. Und wenn ich meinem Vater sehen will, dann brauche ich auch nur noch die Zeitung aufzuschlagen. Gestern war er sogar wieder im Fernsehen, aber hier war er lange nicht mehr!“
Frank gestand sich ein, dass sie vollkommen Recht hatte. Er stand verunsichert herum und sagte daraufhin: „Lass uns doch ein wenig durch das Dorf gehen!“
Sie winkte ab. „Ach, Frank! Das bringt doch alles nichts!“
Der junge Mann riss die Augen auf. „Was bringt nichts?“
„Dieses Geplänkel mit uns. Du hast ja nichts weiter als Krieg im Kopf. Ich spiele für dich doch gar keine Rolle mehr …“
Sprachlos suchte Frank für einen Augenblick nach einer passenden Antwort und bemerkte schließlich: „Nein, das stimmt nicht! Ich liebe dich doch!“
Julia betrachtete ihn mit ausdruckslosem Gesicht und strich sich durch die Haare. „So, so …“
„Warum kommst du nicht wenigstens mit nach Minsk?“
Die Tochter des Außenministers zuckte mit den Achseln. „Ich weiß auch nicht …“
„Dann komm endlich mit mir nach Minsk! Ich will, dass du an
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