Bevor Alles Verschwindet
zeigen wollte, als er ihn fast aus der Welt befördert hätte: »Irgendwas ist mit Mona.«
Mona ist plötzlich umgekippt. In der Mitte des Platzes hat sich eine umgekehrte Pietà gebildet: Jules hockt auf dem Boden, Monas Kopf in seinem Schoß. Jula kniet daneben und sieht besorgt ihren Bruder an, nicht Mona. Entschlossen steuert Milo auf die drei zu.
»Warte!«, wieder hat David seine Hand an Milos Jacke. Ein billiger Stoff, für den Herbst gemacht, und schon ist da ein Loch mehr. Seit Jahren werden sie immer weniger, ist niemand dazugekommen und schon gar nicht jemand wie Milo. »Das kann man nähen. Das näh' ich dir. Ich kann das«, sagt David, und Milo lächelt. Mit Milo ist immer alles in Ordnung, denkt David, und das fühlt sich aufregend an, obwohl es Ruhe bedeutet.
Durch das Butzenfenster vom Tore schaut der letzte Stammtisch hinaus auf den Hauptplatz, auf Milo und David und viel
leicht bis hinüber zu Mona. Die Gesichter der Stammglasinhaber sind verzerrt, wie in einem Spiegelkabinett, runde Köpfe, schwammige Körper. David muss ständig an das Loch in der Jacke denken, mit Milo an seiner Seite stören ihn die Blicke auf einmal, er weiß nicht, was die Blicke mit Milo anrichten können, er weiß nur, Milo darf auf keinen Fall wieder verschwinden. Vorsichtshalber lässt er den Ärmel los und hebt den Mittelfinger in Richtung der Jahrmarktsfratzen: Alles super! Alles normal und alles wie immer und alles ganz allein Davids Sache.
»Komm«, sagt er zu Milo, »lass uns zu den anderen gehen«, und dann hört er Jula brüllen, »Na endlich!«, und David wundert sich, dass Jula ihn anscheinend erwartet hat.
Mona ist blass und Jules auch, es ist der erste Tag in einer Reihe von Tagen und Monaten blasser Gesichter und großer Sorgen. David kniet sich neben Jula auf den Boden, sie ist ganz ruhig, aber Jules beginnt zu stammeln, sobald Davids Knie den nassen Boden berühren. »Sie hat was von Flutung gesagt, sie hat sich total aufgeregt und dann ist sie umgekippt«, sagt er und schaut David an, als wäre der ein Arzt, als wüsste der irgendwas außer seinem Namen und außer dem Ding mit der Liebe. Erstaunlich, wie schnell jemand wie Jules aus der Fassung geraten kann. Er wirkt wie zwölf und als hätte das Leben ihn noch nicht konfrontiert. Aber bis auf die Sache mit der Schere ist ihm tatsächlich noch nie etwas Schlimmes passiert, und die feine Narbe in seinem Gesicht dicht unter dem Auge ist das einzige Anzeichen eines Makels.
»Mona, tut dir irgendwas weh?« David spricht ruhig, er fängt langsam an, er will herausfinden, ob sie einen Krankenwagen rufen müssen, aus der Stadt bräuchte der eine halbe Stunde. Gerade will er die nächste Frage stellen, als Mona sich aufsetzt, Jules' Arm von ihrem nimmt. Schweißgeruch weht durch die Luft, als Mona wie im Traum spricht:
»Alles sehr bedenklich, sehr bedenklich.«
»Was?«, fragt David ruhig.
»Es wird eine Flutung geben.«
»Wo?« Nervös tritt Jula von einem Bein aufs andere. Milo hockt sich neben David, besorgt betrachtet er den Schnitt auf Monas Stirn.
»Sie sind beim Bürgermeister«, sagt Mona. Blut läuft über ihre Brillengläser. Vorsichtig fährt Milo mit dem Zeigefinger über die Brüche, und David erwartet, dass das Glas unter Milos Berührung heilt, so weit ist es schon mit ihm. »Sie werden es ihm sagen und dann wird geflutet«, sagt Mona leise, sie sagt nichts zu Milos Hand auf ihrer Brille, sie blinzelt nicht einmal.
»Ich steh' jetzt auf, Vorsicht«, sagt Jules, nimmt Monas Kopf und legt ihn behutsam auf den Boden.
»Habt ihr ein Telefon dabei?« Jules und Jula sehen David an.
»Du etwa nicht, oder was?« Das Oder-was kommt einstimmig.
»Ihr könnt das also immer noch«, sagt David und dann ruhig, wie man zu Kindern spricht: »Ruf bitte einen Krankenwagen, Jula. Sag ihnen, es ist ein Notfall.«
Jula tippt die Nummer, und David hofft auf Empfang, denn den hat man hier nur selten. Heute sind sie an die Außenwelt angeschlossen, und David lauscht, wie Jula zur Eile drängt, dann wendet er sich wieder Mona zu, die ist in der Zwischenzeit bewusstlos geworden. Jula steckt das Telefon weg, Milo beachten sie nicht, sie würdigen ihn keines Blickes, David aber hat nur Augen für ihn, es herrscht eine sakrale Stille.
David reißt sich zusammen, wendet sich wieder Mona zu, vorsichtig nimmt er ihr die Brille von der Nase. Er weiß, dass die Zwillinge auf seine Hände starren, dass sie sich fragen, wie er sich selbst nur so zurichten kann. Monas
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