Bevor Alles Verschwindet
Brille wickelt David in sein Taschentuch, nur einmal benutzt, er hält sie in der Hand wie einen verletzten Vogel. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als zu warten, und darin sind sie geübt.
In Wachos Küche wird Nummer 1 deutlich. »Devastierung«, sagt er und lässt das Wort klingen wie die Apokalypse. Wenn es jetzt nicht ankommt, wenn sie es jetzt nicht begreifen, tun sie es nie, diese Realitätsverweigerer, die hier immer noch ausharren, Jahre nach der ersten Ankündigung, die Vernünftigen sind längst fort.
»Das haben Sie doch gewusst«, sagt Nummer 2, und Wacho schüttelt den Kopf, eben nicht, wie hätte er auch, und selbst wenn, wie soll man sich so etwas bewusst machen, dass einem so etwas tatsächlich geschieht?
»Ihr macht das wirklich?«, sagt Wacho.
»Ganz genau«, sagt Nummer 1, und Nummer 2 sagt: »Wie auch immer, so ist es jedenfalls. Ihre Aufgabe«, sagt er, »ist es, die Bürger von den Maßnahmen in Kenntnis zu setzen. Am besten gleich morgen, am Freitagabend, da sind die Menschen ruhig und müde. Zu Ihnen kommen wir heute, weil Sie wach sein müssen und verstehen, aber Ihren Leuten, denen sagen Sie es besser erst morgen. Wir haben hier Informationsmaterial für Sie und ein Plakat, vielleicht schicken wir Ihnen sogar ein Modell. Die Gesellschaft kümmert sich um alles.« Wacho nickt stumm, blickt ins Leere. Was, wenn sie wiederkommt? Wenn Anna wiederkommt und merkt, dass er es nicht einmal geschafft hat, ihr Zuhause über Wasser zu halten, das auch noch, das auch noch neben David, einem einsamen Sohn ohne Träume.
»Hören Sie uns zu?«, fragt Nummer 1.
»Natürlich«, murmelt Wacho, während sich die Welt jenseits der Gardinen blau verfärbt.
Die von Greta Mallnicht gewartete Turmuhr schlägt eins, als der Krankenwagen mit Blaulicht ins Tal fährt. Das Geheul der Sirenen und der Glockenschlag überlagern sich in einem unheimlichen Echo, und der Wagen rast die holprige Straße hinab, überfährt eine Kartoffel und kommt schließlich mit quietschen
den Reifen vor dem Rathaus zum Stehen. Nach und nach kriechen die letzten Stammgäste aus dem Tore und versammeln sich um David und Milo und die Zwillinge, und ausnahmsweise wird sich heute ganz besonders um Mona gedrängt.
»Hier gibt es nichts zu sehen«, lügt einer der Rettungsassistenten, und niemand lässt sich dadurch verscheuchen. Milo hat seine löchrige Jacke ausgezogen und Monas Kopf darauf gebettet. David und er haben versucht, Mona ganz auf die Jacke zu legen, aber dann hat Jules zu bedenken gegeben, dass sie nicht wissen, ob Mona vielleicht innere Verletzungen hat, und dass David sie lieber nicht so viel bewegen soll, und so liegt nur Monas Kopf auf Milos Jacke und David hat seinen Winterparka über Mona gebreitet, damit sie nicht friert. Von der Jacke perlt der Regen ab, und Mona schaut aus wie mit Tränen bedeckt, dabei weint hier niemand, wegen so was heult hier keiner.
David und Jula rauchen, Jules sieht Jula an und möchte am liebsten sagen, dass sie aufhören soll, weil das tödlich ist und er nicht existieren kann ohne sie. Er hat das schon einmal gesagt und er sagt es nie wieder, eiskalt verächtlich hat sie ihn gemustert damals. Die zwei Rettungsassistenten schieben Jules und Jula beiseite, bitten auch David, Platz zu machen, und fragen ihn, was genau passiert sei. David schüttelt den Kopf, er weiß es nicht, niemand weiß was, sie ist einfach umgekippt, und da liegt sie nun.
»Wir wollten sie nicht zu viel bewegen«, sagt Jula.
»Gut«, sagt der eine Rettungsassistent, »in den meisten Fällen ist das besser so.«
»Genau«, sagt Jula und zwinkert ihm zu, und Jules beißt sich fest auf die Unterlippe. Jemand aus dem Tore sagt, dass er Mona gestern im Laden getroffen hat, da war sie auch schon so merkwürdig, und eine andere ruft:
»Ach was, ich habe sie erst heute gesehen, da hat sie sich ihr Gemüse ausgesucht, ganz normal.«
»Deswegen kann sie doch trotzdem gestern seltsam gewesen sein, manche Krankheiten kommen schubweise, oder nicht?«
»Vielen Dank für Ihre Mithilfe«, sagt der Rettungsassistent und wendet sich von den Umstehenden ab und David zu: »Sie sollten sich etwas überziehen, es ist kalt hier unten.« David nickt und nimmt seinen Parka, und Milo nickt auch, auf seiner Jacke liegt immer noch Monas Kopf.
»Wir können dann ja vielleicht gleich reingehen«, sagt David, »und Punsch trinken.«
»Was ist eigentlich mit dir los?«, fragt Jula scharf.
»Stimmt«, sagt Jules und:
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