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Bevor Alles Verschwindet

Bevor Alles Verschwindet

Titel: Bevor Alles Verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Scheffel
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»Was ist los mit dir?«
    Wacho tritt mit den beiden Fremden aus dem Rathaus und muss lächeln, als er David in der Menge entdeckt. Vielleicht wird seinem Sohn wenigstens für einen Augenblick klar, dass sein Vater sehr wichtig ist. Aber schon im nächsten Moment erinnert er sich, dass er als Bürgermeister auf einem sehr wackligen Thron sitzt und die beiden klammen Gestalten zu seiner Rechten und zu seiner Linken nicht hier sind, um ihn vor Widersachern zu schützen. Höchstwahrscheinlich sind dies seine letzten Momente als fast einstimmig gewählter Bürgermeister, und er will sie möglichst huldvoll gestalten. Und so beeilt sich Martin Wacholder, springt ein paar Schritte vor seine Begleiter, die eigentlich seine Wachen sind, und breitet die Arme aus.
    »Was geht hier vor«, spricht er, er fragt nicht. Und dann, an seinen Sohn gerichtet: »David!«
    Alle drehen sich zu David um. Der will das Taschentuch in seiner Jacke drücken, er schrickt zurück, als seine Finger auf etwas Hartes stoßen, Monas Brille, der geborgene Vogel. David muss das hier ohne seine Beruhigungskugel durchstehen. Er strafft den Rücken, dann tritt er vor, setzt sein grimmigstes Gesicht auf und sagt:
    »Weiß nicht, keine Ahnung, Mona geht es schlecht.«
    »Das sehe ich, mein Junge, sie schieben sie gerade in den Krankenwagen. Ein bisschen präziser bitte!«
    »Weiß nicht, keine Ahnung«, wiederholt David. Er kann sehen, wie in Wacho die Wut emporsteigt. Bald geht es wieder los, auch so eine Krankheit, die in Schüben kommt. Aber er hat jetzt Wichtigeres zu tun, Mona braucht ihre Brille. Die Blicke folgen David, wie er durch die Menge in Richtung Rettungswagen verschwindet. Die Ellbogen muss er nicht benutzen, aber das würde er.
    »Das war mein Sohn«, sagt Wacho, atmet tief ein und atmet aus und sieht die beiden fahlen Herren an. »Er wohnt auch im Ort. Alle, die Sie hier sehen, wohnen hier.«
    »Gut«, sagt Nummer 2, und dann sagt er leiser und nur für Wachos Ohren bestimmt: »Sie sollten eine offizielle Versammlung einberufen, in diesem Chaos ist eine Verkündung keine gute Idee. Jedenfalls nicht, wenn Sie eine Panik vermeiden wollen, und wer will eine Panik schon nicht vermeiden? Wie gesagt: Sprechen Sie morgen mit Ihren Leuten, am Freitag, wenn alle müde sind und ihre Ruhe haben wollen und niemand sich unnötig aufregt. Und erzählen Sie ihnen dann auch sofort von dem neuen Ort, der extra angelegt wurde für sie, und dass alles bereitsteht, dass jeder sich sein Haus gestalten kann, wie er will, sie können sich sogar den Namen aussuchen für ihr neues Zuhause. So eine Umsiedlung ist ja kein Weltuntergang. So machen Sie das.« Wacho nickt gehorsam.
    »Wir werden uns in den nächsten Tagen noch häufiger begegnen«, sagt Mann Nummer 1, Monas Mann, und hält Wacho die Hand hin. Der ignoriert sie.
    »Sie werden von uns hören«, sagt Wacho, und leise: »So leicht geht das nicht, mit Ihrer Flutung, Sie werden sehen.« Nummer 1 und Nummer 2 sagen nichts mehr, darauf lassen sie sich nicht ein, unbeeindruckt gehen sie auf den Rettungswagen zu.
    »Flutung«, flüstert Jula ihrem Bruder zu. Sie haben es geschafft, ganz nah an die Fremden heranzukommen. Im Anschleichen sind die Zwillinge besser, als man es angesichts ihrer Auffälligkeit vermuten würde. Das ist der Trick. »Flutung, davon hat Mona doch auch gesprochen.«
    »Kann sein«, sagt Jules und zieht Jula weg vom Geschehen, zurück unter die kahle Linde und in ihre nasskalte Zweisamkeit.
    Mona verbringt den Großteil dieses Tages, an dem sie im Mittelpunkt steht, liegend und bewusstlos, und so bekommt sie nicht mit, wie die beiden Fremden an die Sanitäter herantreten und diese fragen, was mit der Frau geschehen sei, nicht, wie Nummer 1 fahler als fahl wird, als er hört, dass die Frau einfach so umgekippt ist, mit blutender Stirn. Mona sieht nicht, wie Nummer 1 entschlossen und mit perfekt manikürten Fingern ein kleines silbernes Etui öffnet, eine Visitenkarte mit dem goldenen Pferdeemblem herausholt und sie dem Rettungsassistenten zusteckt. Sie hört nicht, wie er sagt, dass sich die Versicherung der Bewusstlosen mit der Versicherung der Gesellschaft kurzschließen soll, ein Unfall sei es gewesen, unverschuldet beiderseits. Sie sieht nicht, wie die beiden Männer in ihr schwarzes Auto steigen, und hört nicht, wie Nummer 1 die dienstlich gebotene Distanz aufgibt und zu Nummer 2 sagt, gerade als sie das Ortsschild im Nacken haben, dass das ja ganz gut gelaufen sei und

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