Bevor Alles Verschwindet
Taille legen, er würde sie auf den Kopf küssen und sie würden ein glückliches Paar abgeben, er und Jula mit dem Loch in der Hose, knapp über dem Knie.
»Hätten Sie einen Schluck Wasser?«, hat Julas Vater gefragt, und Anton ist vor Schreck die Melisse auf den Boden gefallen. Fahrig griff er nach einem Glas im Schrank, hat es mit Leitungswasser gefüllt und mit einem Knall vor Julas Vater auf den Tisch gestellt. Julas Vater muss gedacht haben, er wäre wütend, dabei hätte doch er selbst wütend sein sollen, und zwar auf Anton, schließlich hat der das heile Gefüge gestört, und jetzt das und hier saßen sie nun, und Jules durfte kein Thema sein, obwohl jeder von ihnen an nichts anderes denken konnte, und bis Jula mit Anton in den Schrebergarten seiner Eltern fahren kann, wird es keine Erdbeeren mehr geben und wahrscheinlich ist es dann auch zum Grillen zu kalt.
»Jula!«, hat ihre Mutter gerufen und Anton ist zusammengezuckt, hat zu Jula hinübergeschaut und direkt auf das Küchenmesser in ihrer rechten Hand, auf den Schnitt in der linken, auf das Blut, das schwer und in Zeitlupe auf das Holz des Küchentisches tropfte.
»Aus Versehen«, hat Jula gesagt, sie haben genickt. »Du kannst ruhig gehen, wir kommen hier klar.«
Auf der Fahrt zur feierlichen Staudammeröffnung hat Anton mehrmals daran gedacht zurückzufahren, aber plötzlich war er da. Es hat sich angefühlt, wie nach Hause zu kommen,
wie in ein Zuhause, für das man die Miete zu lange nicht gezahlt hat.
Anton fühlt sich wie kurz vor einem absoluten Verlust und als er auf seine Kollegen zugeht, fällt ihm wieder ein, dass er der Feind ist für die paar Einheimischen, die geblieben sind bis zum Schluss. Anton schüttelt die Hände seiner Kollegen, sie klopfen ihm auf die Schulter, als wäre Jules sein Bruder gewesen. Einer sagt: »Du stehst immer noch unter Schock.« Ein anderer sagt, Anton solle zurückfahren, er könne ihn bringen, und dass das, was jetzt komme, doch eh nur ein Spektakel sei, frei von Sinn und das niemand brauche, am wenigsten er.
Anton braucht das nicht, ganz und gar nicht. Er will sich die Augen zuhalten, wenn es passiert, und nichts mehr sehen von dem, was sie da angerichtet haben. Jules ist hier präsenter als in Antons Küche, wo die schweigende Familie sitzt und so tut, als wäre es ein ganz alltägliches Treffen, um Anton kennenzulernen oder um Jula in ihrer neuen Heimat zu besuchen.
Anton kneift die Augen zusammen, für einen Moment hat er gedacht, da unten wäre ein Wald. Da ist ein Wald, und in dem Wald steht der Lastwagen, und um den Schornstein fliegt ein Schwarm Vögel, große Vögel sind das und sie sind schwarz, sie fliegen wie die Enten um den Mond.
Da ist nichts, da kann nichts sein, und Janno, sein Freund mit dem Schlangentattoo weicht nicht von Antons Seite, und jetzt kommt der Bauleiter auf sie zu, er hat schon getrunken, gibt sich aber offiziell.
»Komm bitte mal mit«, sagt er zu Janno, Anton ignoriert er.
»Nein«, sagt Janno. Der Bauleiter ist perplex.
»Irgendwer muss mir helfen, diesen störrischen Bürgermeister da wegzubekommen, der geht uns sonst mit unter.«
»Ja«, sagt Janno, »dann frag mal die anderen.«
Anton will sagen, dass sie mit Wacho vorsichtig sein müs
sen, dass Weggehen für den mehr ist als ein Verlassen des Ortes. Jula hat ihm von Wachos Frau erzählt, sie habe sie nicht gekannt, aber ihre Mutter habe eine Zeitlang jeden Tag bei ihr gesessen und versucht, sie zum Sprechen zu bringen. Und dann war die Frau eines Tages weg, ohne dass irgendjemand mitbekommen habe, wohin sie gegangen ist. Anton möchte sagen, dass sie Wacho dort unten lassen sollen.
Im auferstandenen Wald kann David durch die Menschen hindurchgehen und die wiederum gehen durch ihn hindurch, David überlegt, ob er da ist oder die anderen oder niemand. Die Welt, die in den letzten Monaten immer leerer geworden ist, ist mit einem Mal übervoll. Eine Frau in einem langen Kleid führt zwei Pferde vorbei, sie bietet David an, eines davon zu mieten, aber David kann nicht reiten, er bedankt sich und sie geht weiter, fragt einen barock gekleideten Herrn, ob er eines der Pferde haben wolle. Der Mann nickt, und dann reitet er gemeinsam mit der Frau durch David hindurch. Durch David wandern außerdem zwölf düstere Gestalten mit Revolvern und Mistgabeln, es laufen drei Kinder in spitzenbesetzter Samtkleidung hinter einem Reifen her, auch ein zerzauster Hund springt durch ihn hindurch, der Hund folgt einem kopflosen
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