Bevor Alles Verschwindet
stünde ungefähr in der Mitte des Hauptplatzes, wenn es den Hauptplatz noch geben würde. Sich hier zurechtzufinden, ist schwierig geworden und man findet ohnehin nicht mehr viel. Da sind die Wurzeln der Linde, da steht das Tipi, ausgebeult von zwei zu großen Menschen, es ist erst halb sechs und schon einundzwanzig Grad warm. Das Kofferradio könnte einer der Bauarbeiter vergessen haben oder einer der Schaulustigen, es könnte von einem anderen Stern herabgefallen sein, von dem aus Kofferradios als Abschiedsgeschenke an die Nachbarplaneten gesandt werden.
Milo sitzt auf dem Boden vor dem Radio und richtet die Antenne aus, für oder gegen den Empfang, anscheinend mag er das Rauschen. Die Musik wird unterbrochen, und es folgen die Nachrichten, der Tag werde sonnig und heiß und Dinge würden geschehen in der Welt, die zusammengenommen stark nach Weltuntergang aussähen und nach sehr großen Fragen für alle, die verantwortlich sind. Es sind Dinge, über die die Hörer ein paar erste Minuten lang entsetzt sein werden, die sie dann aber bald wieder wegschieben und vergessen über dem Alltag. Auch der Ort wird erwähnt, um elf Uhr beginne die Flutung, und wenn man dieses Spektakel aus der ersten Reihe erleben wolle, und das wolle man doch, müsse man sich früh auf den Weg machen.
Hinten, bei den Hügeln, ist eine Staubwolke, vielleicht sind das die ersten Zuschauer oder die Menschen, die das Haus ab
holen wollen. Milo rennt auf den Lastwagen zu, er kann sehr schnell laufen, obwohl er seit Wochen gesessen hat. Er läuft an dem Tipi vorbei, und David ist wach, schon die ganze Zeit, und er wundert sich über Milo, was macht der nur. Leise kriecht David in Richtung Ausgang, er darf Wacho nicht wecken. Aber Wacho wacht nicht auf, nicht einmal, als David aus Versehen auf seine Hand tritt, bemerkt er, dass David dabei ist, sich von ihm zu entfernen.
David zieht die Hose an, mitten auf dem Platz, noch ist niemand da, der ihn beobachten könnte, so halbnackt, und selbst wenn, wahrscheinlich hielte man ihn ohnehin für ein Hirngespinst. Sie alle hier unten, Wacho, Milo, die beiden Löwen und er, müssen aus der Ferne wie Fata Morganen aussehen. David blickt auf seine Hände, die Arme, weißgepudert bis zum T-Shirt-Rand. Das zerrissene T-Shirt ist bei Jules, hoffentlich hat er es noch. David beißt sich in die Hand, um nicht loszuschreien, er fragt sich, wie lange es anhalten wird, das Gefühl, die Welt könne sich unter diesen Umständen unmöglich weiterdrehen. David fragt sich auch, ob er jemals Teil war dieser Welt, und er beschließt, sich selbst für heute nichts mehr zu fragen, er wird jetzt das Bild holen und dann ist Schluss.
Der Bürgermeistersohn anno dazumal ragt aus den Trümmern des Hauses hervor, das ist eigentlich unmöglich, das Bild hing im Keller, gestern war es noch dort, auch nach dem Zusammensturz. Der Bürgermeistersohn starrt ihn an, aus wohlbekannten Augen, er scheint etwas zu erwarten, was David nicht kann und ganz sicher nicht darf. David klettert über den Schutt. In den Ausläufern blühen die Vergissmeinnicht, sie überleben, Monas einzige Blumen. Als David vor dem Bild steht, zögert er und zieht dann am Rahmen. Sein Arm schmerzt, aber das ist nicht wichtig, wichtig ist nur das Bild. Das Bild ist Milo, das Bild muss er Milo bringen, das Bild ist intakt, so als wäre kein Haus daraufgestürzt und auch nicht Wachos geballte Angst.
David läuft mit dem Bild unterm Arm in die Richtung, in die Milo gegangen ist. Er rennt durch den verschwundenen Wald, beim Laufen pocht es in seinem Arm, als hätte der ein eigenes Herz und als bräuchte es ganz dringend einen Arzt.
Da hinten klettert Milo auf den Lastwagen, die drei Stufen hinauf, er berührt die Mauern des Hauses, als wenn es ein Lebewesen wäre, eines, von dem er sich verabschieden muss.
»Was machst du hier«, ruft David verärgert. Milo dreht sich zu ihm um, seine Hand bleibt an der Wand, David beneidet das Haus um diese Nähe. Milo winkt ihn zu sich, es fühlt sich an wie eine Audienz, zu Milo gehen zu dürfen, es fühlt sich an wie eine Rettung.
David steigt auf die erste Stufe und Milo reicht ihm seinen Arm und zieht ihn hoch, und da stehen sie nun, dicht beisammen, und David sagt nichts und Milo hat noch nie viel gesprochen, und auch jetzt sagt er kein Wort. Eine Hand auf der Mauer, eine an Davids gesundem Arm, eine Hand, die jetzt hinabrutscht bis zu Davids Hand und sich fest um sie schließt. David hält Milo das Bild vor die Nase: »Das
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