Bevor Alles Verschwindet
anderes vorschlägt und der starke Gelbhelm nickt, macht Wacho sich auf den Weg zur Traufe, es ist ihm egal, ob die anderen folgen, er will nur sichergehen, dass David nicht dort unten treibt, im überschnappenden Fluss.
Sie sitzen und verbringen Zeit, von der David nicht weiß, wie viel sie davon wirklich noch haben. Dass er die letzten Momente hier mit Herrn Mallnicht verbringt und nicht mit Milo erscheint ihm auf seltsame Weise richtig. Von Herrn Mallnicht hat David nie etwas erwartet, von Milo sicher zu viel.
»Wie ist es, tot zu sein?«, fragt David.
»Ich bin nicht tot.« David wird rot.
»Aber Sie haben ein Grab.«
»Das bin doch nicht ich«, sagt Herr Mallnicht empört. »Ich bin doch hier, wie du siehst. Ich kann herkommen, wann immer ich will. Das Problem ist nur: Außer mir und den anderen Besuchern ist bald niemand mehr da. Ich habe es geliebt, Greta beim Blumengießen zuzuschauen und wenn sie Kartoffeln schält. Aber jetzt ist sie mit einem Mal verschwunden, und ich fürchte, meine Existenz ist nur an diesem Ort möglich.«
»Sie sind ein Geist«, sagt David entschieden. »Sie sind einer dieser Geister, die nicht wissen, dass sie tot sind.«
»So ein Quatsch«, sagt Herr Mallnicht und grüßt beiläufig einen Herrn in seinem Alter: »Tach Karl, du, ich kann gerade nicht. Wir seh'n uns später, ja?« Dann wendet er sich wieder David zu: »Junge, du spinnst.«
»Was sind Sie dann?«
»Ist das so wichtig?« David zögert. »Wer bist du denn, Junge?«
»Das wird mir zu grundsätzlich«, sagt David und will aufstehen, aber Herr Mallnicht hält ihn fest.
»Das ist eine einfache Frage. Setz dich wieder, wir müssen reden.«
»Ich weiß nicht«, sagt David.
»Siehst du, so bist du. Du weißt nichts und du machst nichts. Weißt du wenigstens, wer Milo ist?« David will schon zugeben, leider auch davon keine Ahnung zu haben, aber dann entscheidet er sich um. Nichts von Milo zu wissen würde bedeuten, ganz allein zu sein.
»Klar weiß ich das«, sagt David.
»Na dann. Erzähl mal«, sagt Herr Mallnicht, genüsslich lehnt er sich zurück, und David erzählt. Von Milo und was er sich so zu ihm überlegt hat, seit er das Bild des Bürgermeistersohnes das erste Mal sah und in den langen Stunden, oben im Zimmer, nachdem ihm die Zukunftsvisionen ausgegangen waren.
»Wo Milo herkommt, ist schwer zu sagen. Vielleicht aus einem Land, das bisher noch niemand entdeckt hat. Vielleicht ist Milo der erste Mensch, der dieses Land je verlassen hat. Auf jeden Fall ist er der Einzige von dort, der hier gelandet ist. Der Weg war weit, Milo musste durch eine Wüste, über eine Gebirgskette, er musste über einen Ozean und ein Stück fliegen und dann noch mal laufen, und zwar eine ganze Zeit lang, und unterwegs ist ihm seine Stimme verloren gegangen, weil er wochenlang mit niemandem gesprochen hat. Nachdem Milo eine ganze Zeit lang immer nur geradeaus gelaufen ist, über Kopfsteinpflaster und Beton, über Wiesen und durch einige Flüsse hindurch, nachdem er Unter- und Überführungen genommen hat und einen Waldweg entlanggegangen ist, wurde er müde und dann war er plötzlich da, also hier.
Milo hat eigentlich nur eine Nacht bleiben wollen. Er hat von den Städten geträumt, vom Untergang in Menschenmassen und von allen Möglichkeiten dieser Welt. Er hat am Rat
haus klingeln wollen, weil es in der Kirche keinen Pfarrer gab und ohne Bahnhof auch keine Mission. Am Hauptplatz blieb er stehen, er sah in den Brunnen, er warf seine vorletzte Münze hinein und hat sich Glück gewünscht und etwas Essbares. Und als er dann hochsah, stand ich vor ihm.
Milo hat vergessen, wie man seine Stimme benutzt«, sagt David. »Wegen des Untergangs.«
»Aha«, sagt Herr Mallnicht, »warum ist Milo gerade an dem Tag aufgetaucht, an dem der Untergang verkündet wurde?« Er sieht David an, als wüsste er die Antwort schon.
»Wie meinen Sie das?«
»Ich frage nur so«, sagt Herr Mallnicht, »weil ich gerade darüber nachgedacht habe, wie das alles zusammenhängt.« David springt auf.
»Wollen Sie damit etwa sagen, dass Milo etwas mit dem Untergang zu tun hat?«
»Aber nein, nein«, sagt Herr Mallnicht und klopft schon wieder auf die Bank.
»Beruhige dich, David. Ich will gar nichts andeuten, dafür bin ich selbst viel zu angedeutet, ich wundere mich nur.«
»Ich mich auch«, sagt David. »Warum unterhalte ich mich überhaupt mit Ihnen? Sie sind überholt, Sie sind längst vorbei und haben hier gar nichts mehr zu sagen.«
»Gut«,
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