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Bevor Alles Verschwindet

Bevor Alles Verschwindet

Titel: Bevor Alles Verschwindet Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Scheffel
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ist für dich.« Milo nimmt das Bild nicht und David lehnt es an das Haus, Milo kann es später irgendwo aufhängen, wenn er angekommen ist, wo er wahrscheinlich schon die ganze Zeit hinwill. Milo springt von der Ladefläche und David folgt ihm, er klettert ihm so schnell er kann hinterher, aber er kann nicht so schnell mit dem Arm, und als er bei Milo ankommt, sitzt der schon auf dem Beifahrersitz und klopft neben sich, auf den Platz am Lenkrad. »Du bist wahnsinnig«, sagt David. Er kann sich da nicht hineinsetzen, er kann die Regeln nicht brechen, er kann vor allem nicht bei ihm bleiben.
    »David«, brüllt Wacho von fern und David will antworten und dreht sich um, in die Richtung, aus der sein Vater ihn ruft, aber plötzlich ist zwischen ihm und Wacho wieder der Wald, spannt sich Laub über seinen Kopf, versperren Bäume die
Sicht. David sieht Milo an, als ob der wüsste, wo der Wald auf einmal herkommt, als könnte der erklären, wie Bäume in Sekunden wachsen.
    David hört ein Glockenläuten, da steht wieder die Kirche, da leuchtet das Kreuz in der Sonne, die aus mindestens vier Richtungen strahlt. Da sind Stimmen, knirschender Kies, Musik, jemand singt in einer fremden Sprache. Die Luft riecht nach Frischgebackenem, nach warmem Holz, nach Vergangenheit, nach Pferdescheiße und Feuerwerk. Hinter den flirrenden Baumstämmen treten Menschen hervor, wie der Wald sind sie aus dem Nichts aufgetaucht, machen sich breit, als gehöre diese Welt wieder ihnen. Da sind sie alle, alle sind da, die einmal waren, mit einem Mal sind sie zurück und leben, als hätte nichts sie dabei unterbrochen.
    Angesichts dieser Geister bekommt David keine Gänsehaut, obwohl er sich in Menschenmengen nicht wohlfühlt, obwohl er noch nie innerhalb einer Menschenmenge war, und jetzt das und das ohne Angst. David freut sich über Gesellschaft, die ihn nicht kennt und nicht sein Versagen.
    »Bleib noch«, sagt er zu Milo auf dem Beifahrersitz. David geht beruhigt, er wandert in fremde Leben hinein. Hinter dem Wald ruft Wacho nach seinem Sohn, und obwohl er die Bäume nicht sieht, kann er David nicht entdecken. David ist woanders, er ist unauffindbar.
     
    Die Fremden kommen, ein letztes Mal kommen sie, spätestens ab morgen wird jeder Ankommende ein Ausflügler sein, dessen gutes Recht es ist, hier zu sein, im Erholungsgebiet. Heute steigen viele von ihnen noch mit einem zweifelhaften Gefühl aus den Wagen und Bussen, schließen manche ihre Fahrräder weit entfernt vom Geschehen ab, um dann vorbeizuschlendern und »Ach sieh mal da« zu sagen, als wäre es reiner Zufall, dass man gerade jetzt hier gelandet ist, an einem derartigen Weltuntergangstag. Einige von ihnen wollten gestern schon
kommen, als sie vom Unfall gehört haben, die meisten wurden von anderen davon abgehalten, weil das daneben sei und irgendwie nicht korrekt. Dann also heute, Reste gucken und Drama und Wasser, das nur noch auf die Ahnung eines Ortes niederstürzt.
    Sie haben Picknickkörbe dabei, auch die Zufälligen, und ein findiger Mensch hat eine Bude aufgestellt, da gibt es schon wieder Bratwürste mit Ketchup oder Senf und ein Brötchen gibt es auch noch dazu. Freigetränke werden verteilt, nicht nur Bier, später gibt's auch noch Sekt. Wenn schon, denn schon, und überhaupt soll das heute ein Fest werden, eins, das das Jahrhundertfest übertrumpft, denn eigentlich war das ein Abschiedsfest und heute feiert man einen Neubeginn und so soll sich das auch anfühlen, mit Luftballons und Softeismaschine.
    Nach und nach kommen die Gelbhelme an, für sie ist ein Bereich abgesperrt, sie müssen sich nicht sorgen um eine gute Sicht. Anton hat heute Nacht nicht geschlafen, er hat bei Jula gesessen, sie saßen überall, auf dem Balkon, in der Küche, zum ersten Mal auf dem Dach, sie saßen in der leeren Badewanne und dann im heißen Wasser und zwei Stunden später saßen sie dort immer noch und das Wasser war längst kalt geworden. Nichts hat geholfen, und Anton wollte für immer bei Jula sein, aber die wollte ihn wegschicken. Natürlich hat Anton sich nicht vertreiben lassen, er kennt Jula gut, aber nicht gut genug, um zu wissen, was sie macht in so einer Situation. Deshalb hat er versucht, ihre Eltern anzurufen im neuen Haus, aber dort funktioniert das Telefon noch nicht, und dann hat er Jula ein Badetuch umgelegt, darauf schwirren Enten um den Mond. Er hat sie abgetrocknet wie ein Kind, er hat ihr geholfen sich anzuziehen, sie wollte kein Schwarz, sie wollte die Hose mit dem Loch

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