Bevor ich verbrenne
der Applaus los. Darauf war ich nicht vorbereitet. Ich hatte doch auf Norwegisch gelesen, und niemand, abgesehen von der Dolmetscherin, hatte ein Wort verstehen können. Trotzdem großer, aufrichtiger Beifall. Es umtoste mich geradezu, die Klatschsalven mischten sich mit dem Wind, und als ich in diesem Moment meinen Blick hob, sah ich Vater. Er stand ganz hinten, oben auf der Kirchentreppe, mit dieser massiven Tür im Rücken. Ich hatte ihn ein paar Jahre zuvor schon einmal gesehen. Damals saßen wir beide in unseren Autos. Es war nachts. Ich fuhr in den leeren, erleuchteten Tunnel unter Baneheia in Kristiansand. Mir kam ein Wagen entgegen. Ich erkannte ihn schon von weitem. Trotzdem wurde mir erst bewusst, dass keiner von uns gegrüßt hatte, als er an mir vorbeigefahren war. So war es auch diesmal. Wir grüßten uns nicht. Kurz darauf sah ich auch Großmutter, und Großvater direkt hinter ihr. Sie standen ein Stück rechts von meinem Vater. Ich weiß nicht, ob sie lächelten. Ich weiß nicht, was sie dachten. Aber ich sah sie. Und sie sahen mich.
Am nächsten Tag fuhr ich mit dem Taxi zum Flugplatz nach Bologna; ich hatte mich verspätet, und wir fuhren mit einhundertsiebzig Stundenkilometern über die Autobahn, die A1 in Richtung Rom. Ich erreichte den Flugplatz, kam an Bord eines KLM-Fluges und fand meinen Platz auf der rechten Seite am Fenster, ganz vorn. Ich setzte mich und betrachtete mit einer bestimmten Erwartung all die anderen Passagiere, die an diesem Flug quer über Europa teilnahme n – bis Schiphol, Amsterdam. Aber es gab keine Bekannten unter den Einsteigenden, die ihre Plätze einnahmen. All die Toten waren auf dem Platz in Mantua geblieben, in der Dunkelheit verschwunden unter den Menschen. In gewisser Weise fühlte ich mich beruhigt, und als das Flugzeug über die Rollbahn schoss und abhob, versank ich in einen Halbschlaf. Wir flogen einen weiten Bogen über die Po-Ebene, ich sah den sich dahinschlängelnden Fluss und auf den Häusern Blechdächer, die in mattem Glanz schimmerten, sonst gab es keinerlei Zeichen von Leben. Nur eine flache, rostrote Landschaft. Nach einer Weile stieg das Flugzeug, und bald sah ich, wie die Alpen sich tief unter mir erhoben. Ich dachte mit einer sonderbaren Ruhe, beinahe freudig an all die Zeitungsausschnitte, die zu Hause auf mich wartete n – so ist es immer vor einer Arbeit, die aus der Distanz verlockend und abschreckend zugleich erscheint; und während wir den Bodensee überflogen, sah ich ein Glitzern im Wasser, das sich wie eine Feder über den See zog.
Ich musste also zu einem kleinen Platz in Mantua reisen, um mit der Geschichte der Brände beginnen zu können, dieses Gefühl hatte ich jedenfalls, als ich hoch über Deutschland im Flugzeug saß und in dem schwarzen Notizbuch blätterte, in das ich nichts mehr geschrieben hatte, seit ich zu Hause hockte und über den Livannet starrte.
Dort oben, in achttausend Fuß Höhe, fing ich an, über den achten Brand zu schreiben, der in der Nacht vom 5 . Juni 1978 in der Küche ausbrach und schließlich das gesamte Haus von Olav und Johanna Vatneli in eine Ruine verwandelte. Ab und zu sah ich aus dem Fenster auf den Kontinent, der ruhig unter mir dahinzog. Der Bodensee glitt allmählich aus dem Blickfeld und verschwand, und ich wandte mich wieder meinem Notizbuch zu. Quer über Europa, hoch über Stuttgart, Mannheim, Bonn und Maastricht, bis wir vor Amsterdam den Sinkflug begannen, schrieb ich über diese beiden Menschen, die ich nie kennengelernt hatte, bei denen ich aber dennoch das Gefühl hatte, ich würde sie kennen. Und so lange, bis wir von Schiphol mit Kurs auf Kristiansand erneut abhoben, bekam ich diesen Brand nicht aus dem Kopf. Als wir in der Dunkelheit über die Nordsee flogen, blickte ich ganz ruhig und gelassen aus dem Fenster, durch mein eigenes Spiegelbild hindurch, hinaus in die Dunkelheit und hinunter ins Meer. Ich wusste, dass es unter mir lag.
VI
Am nächsten Abend begann ich; seit der Dunkelheit über der Nordsee wusste ich, wo ich anzufangen hatte.
Ich fuhr in der Dämmerung von zu Hause los, bog rechts in die Kreuzung vor der Bibliothek von Lauvslandsmoen und fuhr weiter in nördlicher Richtung. Die Fahrt dauerte lediglich vier, fünf Minuten, dann parkte ich den Wagen direkt an der hohen Feldsteinmauer. Es war ein ruhiger Septemberabend, kein Mensch zu sehen, nur Kühe auf der Weide. Ein schwacher Luftzug aus Westen. Vom Meer zog ein Unwetter auf. Ich werde immer so ruhig, wenn ein
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