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Bevor ich verbrenne

Bevor ich verbrenne

Titel: Bevor ich verbrenne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaute Heivoll
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Bankangestellter es tun würde. Hin und wieder atmete er dennoch tief durch.
    Und dann.
    Als er aufhörte, blieb es einen Augenblick still. Alfred blickte auf einen Punkt gleich links von mir, dort war das Fenster, von dem aus man die ganze Straße bis zum Herrenhaus übersehen konnte.
    Dann erzählte Alfred die Geschichte von dem Burschen, der sich selbst in die Luft sprengte und dessen Mutter hinterher umherging und die einzelnen Körperteile in ihrer Schürze einsammelte. Ich weiß nicht, wie wir darauf kamen, streng genommen hatte es nichts mit den Bränden zu tun, aber irgendwie passte es schon. Alfred erzählte sachlich und nüchtern, und das ließ die Geschichte noch erschütternder werden. Ich musste mir nichts notieren, so etwas konnte man unmöglich vergessen.
    Als ich gehen wollte, erwähnten sie den Brief. Es gab also einen Brief. Else und ich blieben im Wohnzimmer sitzen, als Alfred ihn suchen ging. Als Alfred das Zimmer verlassen hatte, sagte sie ein wenig abwesend, beinahe zu sich selbst: »So ein guter Junge. Der beste Junge auf der Welt.«
    Ich glaube, Alfred wusste genau, wo der Brief lag, denn er kam umgehend zurück. Ich las den Brief, während Else und Alfred stumm daneben saßen und meine Reaktion abwarteten. Es handelte sich um einen dünnen Bogen im A5-Format, auf beiden Seiten beschrieben. Die Schrift ein wenig geneigt, mit einem leicht kindlichen Zug. Ich las mit einer Mischung aus Ehrfurcht und gewaltiger Neugier. Als ich fertig war, sagte ich: »Er mus s … intelligent gewesen sein.«
    »Das war er«, erwiderte Alfred. »Er war ein kluger Bursche.«
    Das war alles. Dann las ich den Brief noch einmal, als hätte ich irgendetwas übersehen oder missverstanden.
    »Du kannst ihn mitnehmen«, sagte Alfred, als ich den Brief zum zweiten Mal zusammenfaltete. »Ich brauche ihn nicht. Nimm ihn ruhig mit.«
    Erst zögerte ich, doch dann steckte ich ihn in die Tasche. Ich war unsicher, ob ich mich bedanken sollte oder ob Alfred eher mir danken sollt e – es endete damit, dass niemand von uns etwas sagte. Ich erhob mich und warf einen Blick aus dem Fenster. Ich sah die Felder und die Laternen am Straßenrand. Bevor ich in den Flur trat, bemerkte ich den Bilderrahmen an der Wand über dem Fernsehapparat. Darin stand auf schwarzem Untergrund mit Goldschrift: Alles ist Gnade .
    Alfred begleitete mich zur Treppe, hinaus in den kühlen Abend. Ich hatte das Gefühl, als wollte er mich nicht gehen lassen, oder er spürte, dass er irgendetwas vergessen hatte. Ein Detail der Geschichte oder eine entscheidende Erinnerung, etwas, das er übersehen hatte, das aber plötzlich wieder hervortreten und alles in ein neues Licht tauchen könnte. Ein vollkommen schwarzer Wald umgab uns, als wäre er in den wenigen Stunden, in denen wir zusammengesessen hatten, näher gerückt. Mir kam der Wald wie eine dunkle, undurchdringliche Wand vor, doch noch war der Himmel klar und hell, mit langen, schlittenförmigen Wolken. Wir gingen die Treppe hinunter, und Alfred begleitete mich zum Auto. Nur unsere Schritte waren zu hören. Dann sagte Alfred: »Du bist wie dein Vater. Wir mochten ihn sehr, wir alle. Er war ein feiner Mann. Schade, dass er nicht mehr da ist.«

2.

I
    E r war ein Wunschkind, und als er zur Welt kam, schien ein Wunder geschehen zu sein. Ein wohlgestalteter Junge. Er blieb ihr einziges Kind und musste ihre Liebe mit niemandem teilen. Er war viel allein und saß gern am Küchentisch, um zu malen, wenn Alma das Essen zubereitete. Früh lernte er Lesen. Noch bevor er zur Schule kam, hatte er sich durch mehrere Bücher aus der Sammlung von Volksbüchern buchstabiert, die im ersten Stock des Herrenhauses stand. Normalerweise fuhr er mit dem Fahrrad dorthin und kehrte mit einer vollen Tasche am Lenker wieder zurück. Später wurde er der Klassenbeste im Lesen und Schreiben. Er schrieb lange Erzählungen, alle mit einem gewalttätigen, oft sogar blutigen Schluss. Diese dramatischen und aufregenden Erzählungen passten überhaupt nicht zu dem Jungen. Er war doch so still, ja regelrecht schüchtern. Und so artig. Überflüssig zu erwähnen, wie höflich er war. Niemand verbeugte sich so tief oder bedankte sich so nachdrücklich wie er. Niemand war so hilfsbereit und aufmerksam. Wenn jemand fragte, bekam er niemals eine ablehnende Antwort. In der Regel half er älteren Menschen, wenn es ums Schneeschippen, das Tragen des Einkaufs oder das Anstreichen des Hauses ging. Ingemann und Alma strahlten, wenn über Dag geredet

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