Bevor ich verbrenne
Unwetter bevorsteht. Ich weiß nicht, warum, aber so war es auch an diesem Abend; ich hätte mich gern auf eine der Bänke gesetzt, mich hingelegt, lang ausgestreckt und geschlafen.
Ich sah keine Schwalben, obwohl ich lange regungslos stehenblieb. Möglicherweise waren sie nach Süden geflogen, vielleicht hatte ich aber auch nur geträumt, dass sie oben im Kirchturm Nester hatten.
An diesem Tag war ich im Pfarrbüro in Nodeland gewesen und hatte die in Leder gebundenen Friedhofsprotokolle mit der Numme r 5531 auf dem Titelblatt eingesehen. Ich durfte sie mit nach Hause nehmen. Sie enthielten sechshundertsechzehn Namen. Abzüglich der Totgeburten, die lediglich eine Nummer erhielten, aber mitgezählt wurden. Alle hatten eine Reihen- und eine Grabnummer zugeteilt bekommen. Alles war geordnet und übersichtlich. Fast so, als hätte ich eine Karte.
Es zeigte sich, dass ich keinerlei Karte benötigte. Ich ging direkt auf das Grab zu. Es war das zweite Grab auf der rechten Seite hinter dem Tor. Ich hatte ja keine Ahnung. Es war beinahe erschreckend. Aber dort lagen sie, Olav und Johanna, die in das brennende Haus gelaufen war, um auf dem Dachboden die Tasche zu holen. Und er hatte wie ein staunendes Kind in Socken vor dem Haus gestanden, und später, am frühen Morgen, als die Sonne aufging, bei Knut Karlsen auf dem Sofa gelegen und geschrien.
Als ich an ihrem Grab stand, erinnerte ich mich an das Interview, das einige Tage später geführt worden war. Nachdem alles überstanden war und Olav sich wieder beruhigt hatte. Ich erinnerte mich nahezu buchstäblich an den Wortlaut: Ich bin so ängstlich. Bei Johanna ist das ganz anders. Sie ist so ruhig.
Das hatte der alte Steinbrucharbeiter gesagt. Er war so ängstlich. Und sie war so ruhig.
Ich blieb auf dem Friedhof, bis ich die ersten Regentropfen in den Haaren spürte. Dreißig Schritte hinter Olav und Johanna fand ich Ingemann und Alma, und neben ihnen lag Dag. Getrennt wurden sie durch einen zwei Meter breiten Erdwall. Er hatte einen schwarzen Stein, etwas kleiner als die anderen, auf dem es lediglich Platz für einen Namen gab.
Bevor ich mich ins Auto setzte, besuchte ich meinen Vater, dessen letzter Wunsch es gewesen war, neben Ururgroßvater Jens Sommundsen begraben zu werden. Der Wunsch wurde erfüllt. Laut Protokoll handelte es sich um Grabstelle Numme r 102. Jens hatte in seinem Leben so viele Prüfungen zu bestehen, deshalb war er so mild geworden. Er hatte zwei Frauen verloren. Und zwei Kinder. Zu ihm kamen die Leute, wenn sie ihr Herz erleichtern wollten. Ich glaube, mein Vater hatte den Wunsch, so zu sein wie er, daher wollte er im selben Grab liegen.
Kåre fand ich nicht. Laut Protokoll hätte er im Grab Numme r 19 liegen sollen, aber ich fand es nicht. Die Grabstelle Numme r 19 existiert nicht mehr.
VII
Einige Tage später rief ich Alfred an. Ganz kurz trug ich ihm mein Anliegen vor. Ich suchte nach Worten, wie immer, wenn ich nervös bin. Er antwortete mit einer Stimme, die ruhig und fern und gleichzeitig ganz nah war.
»Ich erinnere mich an alles, als wäre es gestern gewesen«, sagte er.
Wir redeten am Telefon vielleicht zwei, drei Minuten über die Brände. Dann erzählte ich von dem Fernsehbericht, in dem er mit dem Rücken zur Kamera stand und Wasser auf die niedergebrannte Scheune der Sløgedals spritzte. Er habe den Beitrag nicht selbst gesehen, erzählte Alfred, er wurde am Abend des 5 . Juni ausgestrahlt, und da habe er sich ganz woanders aufgehalten. »Ich wusste nicht, dass sie mich gefilmt haben.«
Ich besuchte ihn und seine Frau Else noch am selben Abend. Ich nahm das schwarze Notizbuch mit, sonst nichts. Es war ein milder Abend, und ich fuhr kurz nach sechs von zu Hause los. Die Bäume bekamen allmählich wieder Farbe, ich hatte es fast nicht bemerkt; die Blätter waren zitronengelb, andere orangerot, beinahe flammend rot, und schließlich gab es noch die Blätter, die der Wind abgerissen hatte, sie lagen braun und vertrocknet auf dem Asphalt. In den Gärten hingen vergessene Äpfel schwer an den Zweigen, und an den Hagebuttenbüschen zeigten sich blutrote Knospen, die wir vor langer Zeit mit den Zähnen in zwei Teile zerbissen haben; ich erinnerte mich an die glatte Schale, an den Geschmack von Hagebutten auf den Lippen und an den Anblick der Samen, die dicht nebeneinander lagen wie kleine, schlafende Kinder.
Als ich ankam, stand die Sonne noch am Himmel.
Irgendwie ist Alfred ein fester Bestandteil meiner Kindheit. Ich kann mich
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