Bevor mir der Tod die Augen schließt (Ein-Linnea-Kirkegaard-Krimi) (German Edition)
Wir müssen reden.«
Schon stand er wieder vor ihr, Martin Svendsen, verzweifelt und gekränkt und – wie sie jetzt sehen konnte – geradezu ungepflegt. Ein starker Kontrast dazu, wie er hier vor fünf Monaten eingetroffen war: sauber, frisch frisiert und blauäugig. Er kam direkt von seinem Abschlussprojekt am Fachbereich Internationale Entwicklungsstudien an der RUC , und wie die meisten Akademiker, die zum ersten Mal im Einsatz waren, hatte er darauf bestanden, seine Theorien und Strategien jedem aufzudrängen. Das war einerseits reizend, andererseits aber auch furchtbar anstrengend. Bente wusste natürlich, dass Ansgar und sie zwei desillusionierte alte Hasen waren. Ihnen kam es in erster Linie darauf an, irgendetwas auszurichten, anstatt die formalen Anforderungen zu erfüllen, die im fernen Kopenhagen in einem Büro entwickelt wurden – oft von Mitarbeitern, die ihr Wissen nur aus Studien bezogen und längst das Gefühl dafür verloren hatten, worum es in der Dritten Welt eigentlich ging. Besonders Ansgar war in den ersten Monaten oft mit Martin aneinandergeraten, bis dieser etwas entspannter wurde und Ansgar akzeptierte, dass sein junger Kollege durchaus etwas Neues beizutragen hatte.
Sie waren drei Dänen, die das Büro in Mogadischu leiteten. Kintu vertrat – im Gegensatz zu den meisten anderen Hilfsorganisationen, die längst den Schwanz eingezogen hatten – die Linie, dass es notwendig war, selbst vor Ort zu sein. Um fortlaufend alles zu beobachten und auszuwerten, aber auch um mit den Notleidenden im Dialog zu stehen und sicherzugehen, dass die Hilfe auch bei den Bedürftigen ankam. In erster Linie verantworteten sie die Essensausgabe von sechs über die Stadt verteilten Küchen, obwohl das wie ein Tropfen auf dem heißen Stein erschien, wenn es nur eine Frage der Zeit war, ehe die Hungerkatastrophe ausbrach. Außerdem waren sie an der Zusammenarbeit mit den örtlichen Stammesführern beteiligt sowie an anderen Maßnahmen, die helfen konnten, wieder eine Art Gesellschaft aufzubauen. Die Entwicklungsprojekte wurden häufig von Al-Shabaab sabotiert oder bei den nächtlichen Gefechten zerstört. Aus den Slums von Mogadischu konnten sie keine Hochglanzfotos an die potentiellen Spender in der Heimat schicken. Aber wie sich herausgestellt hatte, war Martin geschickt darin, seine Berichte so zu formulieren, dass es den Eindruck erweckte, sie würden trotz allem doch einen Fortschritt beobachten.
In den letzten Monaten hatten sie sich als richtig gutes Team erwiesen, was sie jedoch mit ihrem losen Mundwerk und ihrem Mitteilungsbedürfnis kaputtgemacht hatte. Wenn sie ihren Verdacht nur für sich behalten hätte, statt Martin und Ansgar hineinzuziehen, dann hätte es immer so weitergehen können.
Jetzt aber hatte sie sie womöglich zu Freiwild erklärt in einer Stadt, wo ein Auftragsmord billiger zu haben war als eine sättigende Mahlzeit.
51
T hor zog die Handbremse, drehte den Zündschlüssel um und löste den Sicherheitsgurt. Er blieb einen Moment sitzen, um sich zu orientieren. Dann justierte er den Rückspiegel, ohne dadurch mehr zu erkennen, und musste am Ende resigniert feststellen, dass man in diesem Dämmerlicht unmöglich etwas sehen konnte. So früh am Nachmittag standen nicht viele Autos auf dem Parkdeck über dem Imperial-Kino, und Thor überlegte kurz, ob er nicht lieber gleich wieder fahren sollte. Hier war es viel zu einsam.
Der Mann, mit dem er verabredet war, hatte sich am Telefon nicht zu erkennen gegeben, aber Thor hatte nicht lange gezögert. Er war sich ziemlich sicher, wer es war. Die Tatsache, dass er fast unmöglich zu beschatten gewesen war und der Staatsanwalt Thor angewiesen hatte, sich möglichst weit weg zu halten, machte ihn nur umso neugieriger. Natürlich musste es einen triftigen Grund dafür geben, dass dieser Kerl nun ganz von allein zu ihm kam. Vermutlich wollte er Thor unter Druck setzen. Aber er war bereit, nahezu jedes Risiko einzugehen, denn selbst Linneas genialer DNA -Coup war sofort abgewiesen worden. Das zu erfahren, würde sie nicht glücklich machen.
Thor stieg aus dem Wagen und schaute sich um. Vom offenen Parkdeck hatte man einen freien Blick von der grellen Farborgie des Palads-Kinos bis zu dem mit Grünspan überzogenen funktionalistischen Vesterportgebäude. Der Schneefall hatte wieder eingesetzt, und inmitten des weißen Flirrens nahm Thor aus dem Augenwinkel einen Schatten wahr.
Er drehte sich hastig um, doch jetzt war niemand mehr zu sehen.
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