Bevor mir der Tod die Augen schließt (Ein-Linnea-Kirkegaard-Krimi) (German Edition)
Vielleicht war er ein bisschen zu voreilig gewesen, als er beschlossen hatte, den anonymen Kontakt nicht zu verjagen, indem er im Hinterhalt Kollegen postierte. Immerhin war er aber doch schlau genug gewesen, nicht ganz ohne eine Absicherung hier aufzutauchen.
»Hallo«, rief er. »Ist da jemand?«
Der Schatten tauchte erneut auf, diesmal am Geländer zur Meldahlsgade, verschwand aber sofort wieder zwischen zwei Autos. Thor blieb stehen und zog vorsichtig seine Pistole aus der Manteltasche. Eine Walther PPK war alles, was er sich in der großen Eile – und ziemlich inoffiziell – am Politigården hatte beschaffen können. Als Dienstwaffe längst nicht mehr im Einsatz, in dieser Situation aber ungeheuer beruhigend. Die halbautomatische Pistole von Carl Walthers Waffenfabrik in Thüringen, Modell »Polizeipistole Kriminal«, jene Waffe, mit der Adolf Hitler im Führerbunker Selbstmord begangen hatte und die James Bond durch Bücher und Filme bekannt gemacht hatte. Sie erinnerte ihn an die allererste Pistole, die man ihm beim Training auf dem Schießplatz der Polizeischule zugeteilt hatte.
Das Geräusch von Schritten ließ Thor aufhorchen. Der Beton erzeugte einen Widerhall, man konnte sich kaum lautlos bewegen. Er entsicherte seine Pistole und trat einige Schritte auf das Geländer zu. Jetzt fegte der Schnee immer heftiger auf das Parkdeck. Er hielt jedoch fast sofort inne. Vor ihm stand ein Mann mittleren Alters in einer kurzen Jacke mit hochgeschlagenem Kragen. Er wandte Thor den Rücken zu, beugte sich über das Geländer und starrte auf den Verkehr, der stadtauswärts in Richtung Gammel Kongevej floss.
Thor näherte sich langsam. Der Mann musste ihn längst gehört haben, bewegte sich aber nicht.
»Sie wollten mich sprechen?«, fragte Thor.
Er hob seine Pistole. Jetzt war er nur noch wenige Meter von dem Mann entfernt. Er trat noch einen Schritt vor, und dann geschah alles auf einmal. Der Mann machte eine schnelle Drehung nach links, so dass er seitlich neben Thor stand und blitzschnell seinen Arm um dessen Mitte schlingen konnte. Mit dem anderen versetzte er Thor, der seine Pistole nun ins Leere richtete, einen Hieb zwischen die Beine.
Thor versuchte, hinter sich zu schlagen, doch der andere hatte ihn bereits in die Luft gehoben. Einen halben Meter in der Luft schwebend, wurde Thor ein Stück getragen und schließlich unsanft auf dem Beton vor dem Geländer abgeworfen. Der Mann warf sich über ihn und schlug ihm die Pistole aus der Hand. Thor wollte sich umdrehen, war jedoch unter dem Körper des anderen gefangen. Er stöhnte vor Wut und Schmerz und versuchte vergeblich, sich zu befreien.
*
Mogadischu, Sahafi Hotel International, 18 . Januar 2011
»Wenn er heute nichts hört, müssen wir wirklich etwas unternehmen.«
Nachdem er eine Weile vor ihr gestanden und mit den Füßen getrippelt hatte, setzte er sich endlich auf den Platz gegenüber, schaute sich jedoch immer wieder nervös um. Bente zwang sich, ihm in die Augen zu sehen. Sie versuchte, Ruhe auszustrahlen, aber ihre Stimme überschlug sich verräterisch. Auch sie hatte in den letzten Nächten nicht viel geschlafen.
»Aber was sollen wir deiner Meinung nach tun? Wir haben das schon stundenlang diskutiert, und du warst derjenige, der gesagt hat, dass wir es nur ignorieren können.«
»Ja, aber das war doch, bevor …«
Bentes Stimme wechselte in eine höhere Tonlage, als sie ihren jüngeren Kollegen unterbrach.
»Wir waren uns einig, Mikkel zu vertrauen. Was können wir anderes tun, als zu warten? Ansgar versucht seit vier Tagen, ihn zu erreichen, also müssen wir doch verdammt noch mal bald irgendetwas erfahren!«
Martin sah sie erschrocken an, und Bente fasste sich an die glühenden Wangen. Sie war sonst immer sehr darauf bedacht, dass sie anständig miteinander umgingen. Diese Geschichte mussten sie gemeinsam durchstehen. Ansgar hatte damals den Vorschlag gemacht, einen Journalisten zu kontaktieren, und auch gleich gewusst, wen. Mikkel Spang-Hansen war sein Sohn. Die anderen hatten der Idee sofort zugestimmt. Der Name klang bekannt, obwohl Bente die alternative und etwas versoffene Erscheinung ihres Kollegen nie mit dem ehrgeizigen jungen Journalisten in Verbindung gebracht hätte, der sich mit seiner Mischung aus Reportage und Glamour schon in mehreren Zeitungen und Magazinen einen Namen gemacht hatte. Offenbar hatten die beiden erst in den letzten Jahren mehr miteinander zu tun gehabt. Ansgar hatte jedoch sehr damit geprahlt, mit
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