Bevor mir der Tod die Augen schließt (Ein-Linnea-Kirkegaard-Krimi) (German Edition)
wetteifert mit der Stimme in meinem Kopf, die mir befiehlt, dass ich weiterlaufen soll. Dass sie wissen, wo ich bin, und er mir direkt auf den Fersen ist.
Hastig schaue ich mich um, habe inzwischen das Ende des Zugs erreicht. Schaue durch die großen Glasfenster direkt auf die Schienen. Dort draußen ist Licht, aber ich kann nicht mehr weiterlaufen. Der Waggon ist voller Menschen, die mir nichts Gutes wollen. Die Türen öffnen sich mit einem Quietschen, und ich dränge mich hinaus auf den Bahnsteig.
Ich sehe aus wie eine, mit der man nicht gern in Berührung kommt, und die Leute weichen zurück und machen mir Platz. Ich bleibe für einen Moment stehen und drehe mich um die eigene Achse.
Ein Mann in einer dunkelblauen Uniform sieht mich an. Er spricht in sein Funkgerät. Zwei schwarz gekleidete Männer haben sich vor der Rolltreppe aufgebaut. Überall sind Kameras.
Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis ich nicht mehr kann. Ich springe in den Zug auf der anderen Seite des Bahnsteigs, kurz bevor die Türen schließen. Drinnen ist es so überfüllt, dass mich niemand bemerkt. Wenn ich mit dem Gesicht direkt vor dem Fenster stehe, werde ich eins mit dem dunklen Tunnel.
Ich bin Anisa. Schwarz wie die Nacht und rot wie Blut.
19
D er Parkplatz hinter dem Rechtsmedizinischen Institut war bis auf einen einzigen Wagen leer, und nur in einigen Fenstern im Erdgeschoss des Gebäudes brannte Licht. Linnea kramte ihre Schlüsselkarte hervor und zerrte einen widerstrebenden Thor durch die Glastür hinein in das menschenleere Gebäude.
»Ich begreife immer noch nicht, warum das nicht bis morgen oder Montag warten kann. Oder was es mit mir zu tun hat.«
Thor war anscheinend unzufrieden damit, dass sie ihn im Ungewissen ließ, aber eigentlich tat es ihm mal ganz gut, sich in Geduld zu üben.
»Warte mal ab«, murmelte Linnea zum mindestens zehnten Mal, während sie auf den Fahrstuhl warteten. »Wir müssen nach unten in die Leichenhalle.«
Sie wollte Thor nicht zu viel verraten und ihm falsche Hoffnungen machen, ehe sich ihr Verdacht bestätigt hatte. Dennoch war sie sich auf der Fahrt hierher immer sicherer geworden.
»Dürfte ich bitte Ihren Ausweis sehen?«
In dem Moment, als sich die Aufzugtüren schlossen, waren eilige Schritte zu hören, und kurz darauf wurde ein Fuß in die Tür gesetzt. Ein Wachmann versuchte sie so barsch und respekteinflößend wie möglich anzusehen, aber Linnea lächelte nur fröhlich und zeigte ihm ihre Schlüsselkarte. Thor wollte gerade seine Polizeimarke hervorholen, als der Mann Linnea endlich erkannte und sie ihren Weg in den Keller fortsetzen konnten.
Die Augen brauchten einige Minuten, um sich an das grelle Licht der Neonröhren in der Pathologie zu gewöhnen.
»Hier, zieh den hier an!«
Linnea holte zwei Kittel, von denen sie sich einen sofort umhängte. Der Leichenkeller des Instituts bot Platz für einhundertfünfzig Leichen, aber hier, im letzten Raum, wo all die bereits Untersuchten lagen, lagerte an diesem Abend zum Glück nur ein knappes Dutzend. Jede von ihnen lag mit einem Tuch bedeckt auf einer Stahlbahre mit Rollen. Linnea wartete nicht auf Thor, der noch mit seinem viel zu kleinen Kittel kämpfte, sondern begann sofort, die Laken anzuheben.
»Wenn du am anderen Ende anfängst, finden wir ihn schnell.«
Thor starrte sie fragend an.
»Wir suchen nach deinem Mordopfer von der Badeanstalt. Es müsste immer noch hier sein.«
Thor folgte Linneas Beispiel, ging von Bahre zu Bahre und blickte unter die Laken, wo ein bläuliches und wachsartiges Paar Füße nach dem anderen zum Vorschein kam. Er hätte lieber in den Listen nachgeschaut, aber Linnea bestand darauf, dass es so schneller ging.
»Erzählst du mir jetzt, was plötzlich in dich gefahren ist?«
Thor hatte Spang-Hansens Leiche gefunden, und Linnea schlug das Laken weiter zurück, so dass der Unterschenkel komplett freilag. Sie schob Thor ein wenig zur Seite, so dass sie die Verletzung sehen konnte.
»Ich hatte recht!«
Sie blickte triumphierend auf.
»Linnea, ich bin müde und hungrig, und was ist jetzt eigentlich mit unserem gemeinsamen Abend?«
»Ich werde dir alles erklären, wir müssen nur erst rüber ins Panum.«
Linnea warf ihre Handschuhe in den Mülleimer und tätschelte Thor die Wange.
»Und hör endlich auf, so eine Miene zu ziehen, du wirst gleich ganz zufrieden mit mir sein.«
Das Panum-Institut war genauso verlassen, und Thor starrte ungeduldig aus dem Fenster von Linneas kleinem Büro in die
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