Bevor mir der Tod die Augen schließt (Ein-Linnea-Kirkegaard-Krimi) (German Edition)
auch auf der anderen Seite freizulegen, ließ das Messer jedoch einige Sekunden in der Luft schweben.
Sie blickte auf und unterbrach Thor in seinem Redestrom.
»Die drei Leichen, von denen ich dir erzählt habe … Es gibt eindeutige Parallelen zwischen ihren Verletzungen und denen, die ich in den Massengräbern in Ruanda gesehen habe.«
Thor blickte verwirrt von dem Gemüse auf, das er gerade kleinschnitt.
»Du meinst, das wäre eine besonders afrikanische Tötungsmethode?«
»So würde ich das nicht sagen. Aber in Kibuye ist uns mehrmals eine ganz bestimmte Verletzung aufgefallen, die uns verwundert hat. Das ist mir sehr in Erinnerung geblieben. An vielen Leichen fanden wir Einschnitte auf der Rückseite des Unterschenkelknochens, die wir nicht verstanden. Zum einen, weil es keine tödlichen Verletzungen waren, zum anderen, weil ein Mörder meistens auf Brust und Hals einsticht. Eventuell noch auf den Rücken, selten einmal auf das Gesicht oder andere Körperstellen. Am Ende stellte sich heraus, dass das eine Methode war, um die Massentötungen effektiver zu machen. Sieh mal …«
Linnea stellte die Lammkeule hochkant, mit der schmalen Seite nach unten, und schwang das Messer so, dass es einige Zentimeter über der Tischkante traf. Der Knochen krachte, als das Messer hineindrang.
»Die Tötungsarmeen der Hutus waren mit Messern bewaffnet«, erklärte sie. »Wenn sie ein Tutsi-Dorf überfielen, durchtrennten sie den Bewohnern zuerst so schnell wie möglich die Achillessehne, um sie an der Flucht zu hindern. Anschließend konnten sie sie in aller Ruhe abschlachten. Meistens geschah das in großer Hast und mit einer derartigen Brutalität, dass wir die Frakturen noch Jahre später an den Knochen der Toten ausmachen konnten. Stell dir ein ganzes Feld voller Menschen vor, die nichts anderes tun können, als darauf zu warten, dass ihre Henker zu ihnen und ihren Familien zurückkehren. Sie waren extrem effektiv. Meistens lagen mehrere Hundert Leichen in den von uns freigelegten Gräbern.«
Linnea schwieg, plötzlich zu einem Erlebnis zurückversetzt, das in jeder Hinsicht in einer anderen Welt stattgefunden hatte. Sie befand sich im westlichen Teil Ruandas an einem Hang außerhalb der Hauptstadt, am Ufer des Kivu-Sees, wo nur ein Zehntel der ansässigen Tutsis die Massaker des Völkermordes überlebt hatten. Überall um sie herum ragten kleine rote Flaggen aus der Erde, um Leichen oder Knochenreste in unterschiedlichen Verwesungsstadien anzuzeigen. Es war das erste Mal, dass sie die Forensische Anthropologie in der Praxis erlebte. Drei Monate harte Arbeit in Ruanda auf Anraten ihres Professors. Nur wenige Jahre nach dem Völkermord. Überall summten Fliegen, die zu verscheuchen sie längst aufgegeben hatte, in der Hand hielt sie die Unterschenkel- und Fußknochen einer Frau mittleren Alters, eines der vielen namenlosen Opfer des Völkermordes. Und Linnea war in diesem Moment bewusst geworden, was für ein grausames Schicksal diese Frau erlitten hatte.
Erst als Thor zu ihr herüberkam, ihr das Messer aus der Hand nahm und sie umarmte, merkte sie, dass sie vollkommen in diese Erinnerung abgetaucht war.
»Und jetzt hast du genau diese Merkmale bei den drei Dänen gesehen, die in Mogadischu getötet wurden?«
Linnea nickte, das Gesicht an seine Brust geschmiegt.
»Die Leichen waren zu verwest, um die Verletzungen eindeutig zu beurteilen, aber nachdem ich die Knochen zum Abkochen geschickt hatte, konnte ich deutliche Frakturen am Unterschenkelknochen und der Ferse erkennen. Wie von kurzen, zielgerichteten Hieben …«
Linnea brach abrupt ab und wandte sich Thor mit gerunzelter Stirn zu.
»Was ist los?«
»Lass mich mal kurz nachdenken. Da ist etwas, was ich vergessen habe.«
»Ich kapiere gerade gar nichts …«
Aber Linnea drückte ihm schnell einen Kuss auf den Mund, um seine Einwände zu stoppen.
»Halt einfach den Mund und mach den Herd aus. Ich erkläre es dir im Auto. Wie war das noch mal: Darf man mit einem halben Glas Rotwein im Blut fahren?«
18
P assen Sie gefälligst auf!«
Die Frau mittleren Alters rümpft die Nase und fegt mit der Hand über ihren Jackenärmel, aber ich bin schon weiter. Schubse ein paar Gymnasiasten aus dem Weg, um zum Zug zu gelangen. Hier gibt es keine Zuflucht.
»Nørreport Station. Nørreport Station.«
Die kalten Lichter des Tunnels blinken wie ein Stroboskop, sie dringen in mich ein und durchlöchern mein Gehirn. Die mechanische Stimme aus den Lautsprechern
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