Bevor mir der Tod die Augen schließt (Ein-Linnea-Kirkegaard-Krimi) (German Edition)
mit, sie hatte immer das Gefühl gehabt, dass sie ihm eine Last war. Wahrscheinlich war die Nanny an diesem Tag unpässlich gewesen. Jedenfalls waren sie in Kibera von einem Polizisten abgeholt worden, der sie zu der größten Schule des Ortes fuhr. Dort angekommen, appellierte er an den Vater, etwas zu unternehmen. Sie waren in das baufällige Gebäude gezerrt worden, das selbst zu diesem Zeitpunkt, mitten am Tag, menschenleer war. Keine Schüler, keine Lehrer. Der Polizist hatte erklärt, dass er die Kinder evakuiert hatte. Alle waren nach Hause geschickt worden, die Schule war geschlossen worden, einige der Kinder mussten ins Krankenhaus gebracht werden.
»Ist es eine Epidemie?«, hatte der Vater gefragt. »Sollen wir die Umgebung auch evakuieren?«
Daraufhin hatte der Polizist in einem aufgeregten Wortschwall erklärt, was vorgefallen war. Linnea verstand natürlich nichts, aber sie folgte den beiden zu einer verschlossenen Tür, die der Polizist mühsam aufschloss. Stolz deutete er hinein, und Linnea erhaschte einen kurzen Blick auf den dunklen Raum, ehe der Vater sie unsanft wegschob. Wütend begann er den Polizisten auszuschimpfen, irgendwann aber zuckte er nur noch resigniert mit den Schultern und zerrte Linnea wieder zum Auto.
»Was ist passiert?«, hatte Linnea gefragt. »Etwas Gefährliches?«
Der Vater zögerte, ehe er antwortete.
»Vergiss es«, sagte er dann. »Er behauptet, böse Geister hätten sich in Gestalt von weißen Katzen und Schlangen in der Schule offenbart. Die Schüler wären von ihnen angegriffen worden. Ein Prediger hätte versucht, die Dämonen auszutreiben. Geister und Ungeheuer! Und dieser Mann will ein Polizist sein!«
Aber das, was Linnea in dem kleinen Raum erahnt hatte, erwähnte er mit keinem Wort. Auf ihre weiteren Fragen antwortete er nicht mehr. Er sprach nie wieder über die Sache, und je mehr Zeit verging, desto mehr zweifelte sie daran, ob sie dort auf dem Fußboden in der Dunkelheit tatsächlich einen nackten und gefesselten kleinen Jungen gesehen hatte.
17
E s ist viel schlimmer, als ich gedacht hätte. Sie irrt nachts auf der Landstraße umher, redet mit sich selbst und ruft nach meinem Vater.«
Dankbar nahm Linnea das Glas Burgunder entgegen, das Thor ihr reichte. Sie hatten beide fast den ganzen Samstag gearbeitet, und sie hatte sich darauf gefreut, ihn zu sehen. So sollte es schließlich auch sein. Wenn Maja bei ihrer Mutter war, lief die Beziehung ausgezeichnet. Linnea mochte es sowieso nicht, wenn man zu sehr aufeinanderhockte. Jetzt standen sie in der Küche im Cæciliavej, und Thor entkernte Oliven, während Linnea von den Anrufen aus Frankreich erzählte, die sie am Nachmittag erhalten hatte.
»Mama ist völlig am Ende. Sie redet Unsinn, und gestern hat sie einen elektrischen Wasserkocher auf die Gasflamme ihres Herdes gestellt.«
»Sollte man nicht einen Arzt rufen?«
»Das verbittet sie sich. Aber eigentlich deutet ja alles auf Demenz hin. Und sie redet immer wieder von meinem Vater und irgendeiner französischen Frau, wegen der Vater sie verlassen hat. Wenn sie doch nur akzeptieren könnte, dass er tot ist. Dann würde sie sich wenigstens nicht mehr von ihm im Stich gelassen fühlen …«
Linnea nahm einen großen Schluck Wein und setzte sich seufzend auf die Arbeitsplatte.
»Außerdem ist es so ein merkwürdiges Gefühl … wir hatten überhaupt kein enges Verhältnis, und jetzt wird von mir nicht nur erwartet, dass ich mich um sie kümmere, nein, jetzt soll ich mir auch noch ihre Liebesqualen mit meinem verstorbenen Vater anhören.«
Linnea merkte bereits, wie sich der Rotwein in ihrem Körper ausbreitete, und versuchte, den Gedanken an die Mutter abzuschütteln. Es war eine ausweglose Situation, mit der sie sich zu einem anderen Zeitpunkt beschäftigen musste. Jetzt wollte sie einfach nur einen schönen Abend mit Thor verbringen, ohne auf Mütter oder Kinder Rücksicht zu nehmen.
Linnea stand auf und nahm die Lammkeule aus dem Kühlschrank, während sie etwas zerstreut Thor zuhörte, der von seinem Treffen mit Asbjørn Vogler erzählte. Irgendetwas ließ sie an die verwesten Leichen denken, die noch immer im Rechtsmedizinischen Institut lagen. Sie zog das Ausbeinmesser aus dem Messerblock und widmete sich der Lammkeule. Mit langen Schnitten löste sie das Fleisch vom Knochen und genoss das Gefühl, wie die frisch geschliffene Klinge fast widerstandslos durch alle Fett- und Fleischschichten glitt. Dann wendete sie die Keule, um den Knochen
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