Bevor mir der Tod die Augen schließt (Ein-Linnea-Kirkegaard-Krimi) (German Edition)
Vorschein.
»Da ist er!«, rief Kraus.
Auch Thor und Linnea hatten ihn entdeckt. Gunnerus war an Deck neben dem Cockpit zwischen den beiden Kajüten aufgetaucht und mit irgendetwas in der Achterkajüte beschäftigt. Er war allein, und Thor wusste nicht, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. Das Motorboot war nun nur noch höchstens fünfzig Meter von ihnen entfernt, und sie holten immer mehr auf.
»Er merkt nicht, dass er verfolgt wird«, vermutete Thor.
»Es wird aber nicht lange dauern, bis wir den Lärm seines eigenen Motors übertönt haben werden.«
Und im selben Moment sah Gunnerus auf, als hätte er sie gehört. Er starrte eine Sekunde lang auf das Speedboot, das regelrecht über das Wasser flog, direkt auf ihn zu. Dann verschwand er wieder unter Deck. Sie hörten, wie sich die Tonlage seines Motors veränderte, aber es machte nicht den Anschein, als würde auch er schneller. Vielleicht lag es auch daran, dass Linnea ihr Speedboot noch schneller vorwärtsjagte. Das Wasser schlug Thor jetzt direkt ins Gesicht. Er war durchnässt und vollkommen durchgefroren, aber inzwischen waren sie so dicht an dem Motorboot, dass es schien, als könnten sie schon im nächsten Moment die Hand ausstrecken und es zu sich heranziehen.
»Wir gehen an Bord!«, rief er den anderen zu.
Aber der Motorlärm der beiden Boote und das aufgepeitschte Wasser übertönten alles. Linnea lächelte ihn an, als hätte sie gerade dasselbe gedacht, und Kraus hob das Tau vom Boden auf, damit sie die beiden Boote aneinander festmachen konnten, wenn sie dicht genug herangekommen waren.
Thor zog seine Pistole und sah, dass auch Kraus die Waffe parat hielt. Im nächsten Moment zwang Linnea das Ruder noch weiter zur Seite, so dass sich das Speedboot heftig nach Steuerbord drehte. Eine Welle schlug zwischen den Booten auf, und dann krachten sie gegen das Motorboot. Diesmal fiel Thor nach hinten über.
»Haltet euch gut fest!«, schrie Linnea.
Noch einmal donnerten sie in die Wand des anderen Bootes, aber jetzt hatte Kraus bereits das Tau auf dessen Deck geworfen. Er klammerte sich an die Reling des größeren Boots und hing halb in der Luft, während er damit kämpfte, das Seil festzumachen.
»Steuern Sie an Land«, rief er mit aller Kraft. »Hier spricht die Polizei.«
Aber Thor schüttelte nur den Kopf.
»Es ist zu spät«, sagte er.
65
T hor stolperte die Treppen zur Vorderkajüte hinunter. Auf den lackierten Stufen konnte man unmöglich Halt finden, aber dann stand er plötzlich dort unten, die eine Hand auf den Kartentisch gestützt, die andere Hand fest um die Pistole geschlossen.
»Wo ist sie?«
Er fixierte Gunnerus, der ruhig am anderen Ende der Kajüte stand, obwohl Thor auf ihn zielte. Nichts war so, wie Thor es sich vorgestellt hatte. Er war halb über Kraus geklettert, um sofort an Bord des anderen Bootes zu gelangen, und hatte mit Gunnerus’ Widerstand gerechnet. Stattdessen wirkte der Kintu-Geschäftsführer wenig überrascht und hob zögernd die Hände. Thor hatte die Treppe im Rücken, die zum Deck hinaufführte. Auf der einen Seite stand der besagte Kartentisch samt der Schalttafel, auf der anderen befand sich eine Bank mit Pantry und Essecke sowie einige tiefe Nischen, die einen Feuerlöscher, Rettungsutensilien und diversen Krempel beherbergten. Vor ihm erstreckte sich die eigentliche Kajüte in lackiertem Teak mit Karten, Büchern und dem obligatorischen maritimen Kitsch. Und mit einem Mal kam Thor die ganze Situation verkehrt vor. Zu normal, zu entspannt, als würde all die Panik und Erregung lediglich von ihm selbst ausgehen.
»Wo ist sie?«, fragte Thor. »Was haben Sie mit Anisa Farah gemacht?«
Gunnerus blieb reglos stehen, als wolle er seine Kooperationsbereitschaft zeigen, aber Thor behielt ihn im Auge.
»Ich glaube, da haben Sie etwas missverstanden«, antwortete Gunnerus schließlich. »Ich bin allein an Bord.«
»Was haben Sie mit ihr gemacht? Ist sie tot?«
Gunnerus ließ seine Hände wieder nach unten sinken, aber Thor schüttelte den Kopf. Sein Gegenüber überlegte kurz, hob die Arme dann jedoch erneut.
»Natürlich habe ich Anisa Farah dabei geholfen, sich zu verstecken«, gab er dann zu. »Sie kam zu mir, völlig aufgelöst und hysterisch, nachdem sie mit angesehen hatte, wie ein Mann ermordet wurde. Ich weiß nicht, was sie mit diesem Journalisten zu tun hatte, aber anschließend war sie am Rande eines Zusammenbruchs. Wer hätte ihr schon geglaubt, dass sie nichts damit zu tun
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