Bevor mir der Tod die Augen schließt (Ein-Linnea-Kirkegaard-Krimi) (German Edition)
aus alten Fällen ausgestellt waren.
»Wir fahnden jetzt seit fast eineinhalb Wochen nach Anisa«, sagte er. »In der Presse waren Fotos, alle Polizeikreise des Landes sind involviert, die Suchhunde waren im Einsatz. Ihre Wohnung wurde auf den Kopf gestellt, ihr ziemlich begrenzter Bekanntenkreis befragt. Das Einzige, was wir nicht ausreichend priorisiert haben, ist die Frage, wer sie eigentlich ist. Ihren Hintergrund. Worauf ich hinauswill: Sie ist eine Spur, die wir nicht intensiv genug verfolgt haben, weil wir nicht wussten, ob sie nur eine Zeugin ist oder viel mehr als das. Und wir hätten es tun müssen. Die Leute vom Kriminaltechnischen Center arbeiten noch in Christiania, aber ich wette darauf, dass man auch dort Spuren von Anisa findet.«
Linnea begnügte sich damit zu nicken, während sie zum Aufzug gingen.
»Ich konnte es erst nicht glauben«, fuhr Thor fort. »Als ich ins Büro zurückkam, wollte Ewald mich unbedingt sprechen. Er hat die ganze Zeit davon geredet, dass er Anisa schon mal gesehen hat. Dass da irgendetwas war, was ihm aber nicht einfallen wollte. Es war ihm ziemlich peinlich, das zu erzählen, aber gestern Abend war er bei seiner Schwester zu Besuch gewesen und hatte alte Zeitschriften durchgeblättert. Sehr alte. Und da war er – in einem Damenblättchen, das er sicher schon vor langer Zeit einmal gelesen hatte. Ein Artikel über Anisa.
»In einer Zeitschrift?«
»Du weißt schon, eine jener wahren Geschichten über dramatische Frauenschicksale auf der ganzen Welt, von denen diese Blätter voll sind.«
Linnea zog ihre Karte durch das Lesegerät des Aufzugs und drückte auf »Erdgeschoss«.
»Sieh mich nicht so an, ich bin mir sicher, dass du mehr über den Inhalt solcher Blättchen weißt als ich.«
»Anisa war eine Kindersoldatin. Sie wurde von einer Rebellengruppe zwangsrekrutiert, die in der Zeit nach dem Völkermord im kongolesischen Dschungel ihr Unwesen trieb. In dem Bericht erzählt sie selbst davon. Es ist keine schöne Lektüre, obwohl die Geschichte sicher ein bisschen abgemildert wurde, damit sie gedruckt werden konnte. Sie war dort im Alter von vierzehn bis siebzehn. Permanent zugedröhnt oder betrunken, Teil einer verzweifelten Kinderarmee. Das ist Anisa.«
Der Aufzug hielt, doch sie blieben eine Weile stehen, bevor sie hinaustraten. Thor sah sie an.
»Also ist meine Frage an dich, ob es nicht doch eine Frau gewesen sein könnte, die diese Morde begangen hat?«
Mit einem Mal erschien alles so unbegreiflich. Natürlich wusste Linnea von den Kindersoldaten und dem unfassbaren Gräuel, das sie miterlebt hatten. Womit hatte Liberias Präsident Charles Taylor den Sieg errungen? Mit Kindersoldaten und mit dem Slogan »I killed your ma, I killed your pa, you will vote for me«. In Ruanda hatte sie es mit eigenen Augen gesehen. Achttausend Menschen wurden innerhalb von hundert Tagen ermordet, und anschließend zogen kleine Gruppen radikaler Hutus weiterhin durch die Dörfer und plünderten, töteten und vergewaltigten. Die Straßen und die Einrichtungen, die sie besuchte, waren voll von Kindern mit leeren Augen. Kinder mit zerstörten Leben, egal, ob sie Opfer oder Täter waren. Die meisten wurden so sehr von Grund auf erschüttert, dass sie nie wieder auch nur annähernd so etwas wie ein sinnvolles Dasein führen konnten.
Als sie das Gebäude verlassen hatten, sog Linnea sofort die kalte Luft in ihre Lungen. Die Vorstellung von Anisa als Kindersoldatin ließ mit einem Mal alles näherkommen.
»Natürlich könnte es eine Frau gewesen sein«, sagte sie dann. »Ich meine, natürlich setzt das enorme Kräfte voraus. Eine extreme Wut. Einen gewaltigen Hass. Deshalb gehen wir von einem Mann aus, weil das das Wahrscheinlichste, das Normalste wäre. Wenn sie aber schon früher Menschen getötet hat, ist das etwas anderes. Aber warum hätte sie es überhaupt tun sollen? Hast du mit Gunnerus gesprochen?«
Sie hatten Thors Auto erreicht, und mit einem Mal merkte Linnea, wie sie von Müdigkeit übermannt wurde. Von jener körperlichen Erschöpfung, die es ihr erlauben könnte, zu schlafen und zu vergessen.
»Gunnerus sagt, dass sie seit zehn Jahren in intensiver Therapie ist. Seit sie nach Dänemark gekommen ist. Er hätte sogar selbst mit ihr gearbeitet, sagt er. Und selbst wenn es ihr niemals phantastisch gehen würde, könnte sie doch ein annährend normales Leben führen. ›Das menschliche Anpassungsvermögen ist unglaublich‹, hat er gesagt. Ihre Zeit als Kindersoldatin sei
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