Bevor mir der Tod die Augen schließt (Ein-Linnea-Kirkegaard-Krimi) (German Edition)
man lediglich eine Tür aufbrechen. Da die Schlösser aus dem Ersten Weltkrieg stammen, kann das nicht weiter schwer sein. Aber weshalb rufst du mich eigentlich an?«
»Wir haben einen Tipp bekommen.«
44
H ier ist es dunkel, aber in der Dunkelheit fühle ich mich geborgen. Ich kann mich nicht selbst sehen. Niemand kann mich sehen, und so will ich es auch.
Ich muss mich vollkommen unsichtbar machen, damit er nicht zu mir vordringen kann. Ich hätte ahnen sollen, dass auf ihn kein Verlass ist. Er war mein einziger Ausweg, aber ich hätte wissen müssen, dass er sich mit dem Bösen verbündet hat. Es darf nie wieder passieren. Ich habe ihn in den Arm gebissen und bin geflohen. Bin an einen Ort gerannt, an dem ich mich endlich sicher fühlen kann. Wo ich zu Hause bin, aber wo sie nie nach mir suchen werden. Die Dunkelheit und der Duft frischer Wäsche trösten mich.
Doch dann drängen sich die Bilder trotzdem auf. Ich bin verwirrt, verstehe nicht, wo sie herkommen. Alles verschwimmt, und ich weiß nicht mehr, was wirklich ist.
Sie beginnen mich wieder einzuholen, die Alpträume aus einer Zeit, in der ich eine andere war. Aber das ist viele Jahre her, und ich habe meine Vergangenheit genommen und versiegelt. Sie so tief in mir begraben, dass ich seither nicht mehr daran gedacht habe. So weit weg, dass ich alle anderen davon überzeugen konnte, dass ich genauso sehr Mensch bin wie sie.
Aber hier in der Dunkelheit weiß ich nicht mehr, was Vergangenheit ist und was Gegenwart, was Alptraum ist und was Realität.
Ich krümme mich in einer Ecke zusammen, umklammere meinen Rucksack und weiß nicht, warum die Bilder von damals wieder an die Oberfläche drängen. Ich taste mich in der Dunkelheit ab, meine Hand orientiert sich, wie ein Mantra liebkost sie jedes einzelne Körperteil.
Immer wenn ich den Stahl spüre, erstarrt mein Körper. Mir wird kalt vor Angst, weil ich weiß, warum das Messer da ist. Aber ich weiß auch, dass es mich einmal retten wird.
45
D ie Küche sah genauso sauber und aufgeräumt aus wie die übrige Wohnung. Selbst das wenige schmutzige Geschirr, das sie hinterlassen hatte, wartete ordentlich gestapelt neben der Spüle. Nur die Kaffeereste, die in einer Tasse eingetrocknet waren, verrieten, dass die Bewohnerin seit mehr als einer Woche nicht mehr zu Hause gewesen war.
»Es gibt Überwachungsfotos aus Christiania.«
Die Begeisterung in Kraus’ Stimme war nicht zu überhören.
»Ich habe sie von Robert von der Drogenfahndung. Sie hatten zufällig am Mittwoch einen Trupp da. Du weißt, der übliche Rundgang in Zivil, um ein paar Fotos für das Familienalbum zu machen und die Dealer ein bisschen unter Druck zu setzen. Die Pusher in Christiania und deren Kunden müssen Dänemarks zweitbeliebtestes Fotomotiv sein – direkt nach der Kleinen Meerjungfrau.«
Thor musste ein Stöhnen unterdrücken, weil Kraus wieder einmal nicht zum Punkt kam.
»Hat deine Erzählung ein gutes Ende?«, fragte er. »Du weißt, dass ich nur Geschichten mit Happy End mag.«
»Immer mit der Ruhe! Sie waren also da und haben haufenweise Fotos gemacht. Jedes davon ordentlich mit Zeit- und Ortsangabe versehen. Und auf einigen ist ein Mann zu sehen, der das Gelände über den Umweg des nördlichen Gebiets verlässt, die Hintertür der Dealer, du weißt schon. Und der Weg liegt ganz in der Nähe von Vibe Herzogs Haus.«
»Das klingt aber ziemlich dünn. Woher willst du wissen, dass es nicht einfach ein zufälliger Passant ist?«
Als er die Küche gerade wieder verlassen wollte, hielt Thor inne. Er starrte auf die Spüle. Der Lappen, der sorgfältig über den Wasserhahn gehängt worden war, schien trocken und steif. Aber auf der Arbeitsplatte direkt daneben hatte sich eine kleine Pfütze gebildet. Leckte eine Mischbatterie nicht normalerweise nur, wenn man den Hahn aufdrehte? Und hätte sich nicht noch mehr Wasser sammeln müssen, wenn sie pausenlos leckte?
Plötzlich wurde ihm bewusst, dass Kraus inzwischen weitergeredet hatte. »Kannst du das bitte wiederholen?«, bat er. »Tut mir leid, aber ich war eben kurz abgelenkt.«
»Er könnte ein nützlicher Zeuge sein. Zeit und Ort passen perfekt. Aber warte mal ab, bis du die Bilder gesehen hast. Um es mal so zu sagen: Er sieht nicht gerade aus wie einer, der sich in die Kälte hinausgewagt hat, um ein paar Gramm Hasch zu kaufen.«
»Und wie willst du ihn dann finden? Ist er der Drogenfahndung bekannt?«
Thor verließ die Küche und beschloss, dass er doch eher Polizist
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