Bewusstlos
waren die vielen Zimmer vollgestellt mit Möbeln, die ihr etwas bedeuteten, die Bilder an den Wänden erzählten Geschichten von früher, und die Schränke waren vollgestopft mit Fotos und Erinnerungsstücken. Da gab es noch die sorgsam gehütete Aussteuer ihrer Mutter, das Geschirr und das Silberbesteck, das sie zu ihrer Hochzeit mit Wilhelm geschenkt bekommen hatte.
In dieser Wohnung existierte Wilhelm noch in ihren Gedanken und Erinnerungen. Wilhelm, mit dem sie zweiundfünfzig Jahre verheiratet gewesen und der vor sechs Jahren gestorben war. In einer anderen Wohnung würde er für immer verschwinden, das war ihr klar.
Ganz abgesehen davon, dass sie sich nicht vorstellen konnte, einen Umzug dieses Ausmaßes bewältigen zu können, wollte sie hier auch nicht weg. Niemals. Nur mit den Füßen voran würde man sie hier heraustragen, eine Zwangs räumung käme für sie einem Todesurteil gleich.
Natürlich war sie einsam, und sie war immer einsamer geworden, seit sie nach und nach keine Nachbarn mehr hatte, aber sie liebte diese Wohnung, hatte nichts anderes.
Als sich die Situation zuzuspitzen begann, weil der Vermieter die Miete erhöhte, soweit es im gesetzlichen Rahmen überhaupt möglich war, als die kleinen Reparaturen überhandnahmen und sie den ewigen Streit mit dem Hausbesitzer kaum noch verkraftete, entschloss sie sich, ein Zimmer unterzuvermieten. Möbliert. Vielleicht traf sie auf einen Menschen, der ihr eine Hilfe war.
Sie annoncierte in der Morgenpost , aber als sich auf die Annonce drei Wochen lang niemand meldete, vergaß sie es wieder.
Es geschah an einem trüben Novembertag.
Auch wenn Lilo nichts Besonderes vorhatte, stand sie normalerweise jeden Morgen um sieben Uhr auf. Weil sie davon überzeugt war, dass ein geregelter Tagesablauf lebensverlängernd wirkte.
Wer morgens pünktlich aufstand, sich wusch und Kaffee kochte, war noch am Leben. Wer im Bett blieb, war krank und wenig später tot.
Aber an diesem Morgen fragte sie sich, warum sie eigentlich aufstehen sollte. Draußen war es stockdunkel, der feuchte Nebel hing in den Straßen, im Zimmer war es kalt, nur unter der Bettdecke konnte sie eine gewisse Wärme halten.
Eine halbe Stunde döste sie noch vor sich hin, konnte es aber nicht genießen, erhob sich schließlich und ging ins Bad. Und schwor sich, morgen wieder den gewohnten Rhythmus aufzunehmen, denn die fehlende halbe Stunde brachte ihren gesamten Tagesplan durcheinander.
Daher war sie den ganzen Tag ein wenig verunsichert, und dann klingelte es um halb zwölf auch noch an der Tür.
Lilo erschrak. Sie bekam nie Besuch. Sie hatte keine Familie und keine Freunde mehr in der Stadt, alle waren weggezogen oder tot. Der Briefträger meldete sich schon lange nicht mehr. Wenn er ein Paket abzugeben hatte, steckte er – wie überall – einfach nur noch die Benachrichtigung in den Briefkasten, dass etwas auf der Post abzuholen wäre.
Es konnten also nur der Hausmeister oder der Vermieter sein, und sie kamen sicher nicht, um ein paar Kekse abzugeben.
Ängstlich schlich Lilo zur Tür und sah durch den Spion.
Im Hausflur stand ein junger Mann im schwarzen Anzug, den sie noch nie gesehen hatte.
Sie legte die Sicherheitskette vor, öffnete die Tür nur einen Spaltbreit und sagte mit zittriger, hoher Stimme:
»Ja?«
»Entschuldigen Sie bitte, dass ich störe«, sagte der junge Mann sehr höflich, sehr nett und sogar mit einem Lächeln, »ich komme wegen des Zimmers, das Sie vermieten wollen. Wenn es noch frei ist, würde ich es mir gern einmal ansehen.«
»Ja«, sagte sie schon wieder und bebte am ganzen Körper. »Ja, ja, natürlich.«
»Ist das Zimmer noch frei?«
»Ja, ja.«
Sie hatte Angst, den Mann einzulassen. Sie fürchtete sich vor ihm. Er sah aus, als käme er von einer Beerdigung. Oder als arbeite er auf dem Friedhof.
Er brachte den Tod. Er war gekommen, sie zu holen. Aber es war doch noch viel zu früh! Sie war noch nicht bereit.
Diese Gedanken schossen ihr durch den Kopf, und im selben Augenblick wusste sie, dass sie spinös war, dass sie überfantasierte und einfach zu lange allein gewesen war. Mit der Realität hatte dies alles nichts zu tun.
Und obwohl sie die Angst noch nicht besiegt hatte, nahm sie die Sicherheitskette ab, öffnete die Tür und flüsterte:
»Bitte, kommen Sie herein.«
Der Mann betrat den Flur langsam und sah sich aufmerksam um.
»Ach, ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Herbrecht. Raffael Herbrecht.«
Sie nickte.
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