Jakob der Reiche (German Edition)
Des Kaisers neue Kleider
»Geh zu den Jungfern am Fenster«, sagte die Mutter gutmütig und energisch zugleich. »Dort kannst du den Kaiser und seinen Sohn Maximilian am besten sehen.«
Der vierzehnjährige Jakob riss die sanften braunen Augen auf und schüttelte heftig den Kopf. Die resolute und geschäftstüchtige Witwe Fugger lächelte verständnisvoll, dann strich sie dem jüngsten ihrer elf Kinder liebevoll über die Tonsur. Obwohl Jakob seit dem Tod des Vaters bereits vier Jahre im Stift Sankt Veit in Herrieden an der Altmühl lebte, nutzte er jeden Anlass, um zu seiner Mutter nach Augsburg zurückzukommen.
Dieser Tag war eine derartige Gelegenheit. Die Familie hatte sich im großen Haus von Vetter Lukas Fugger am Weinmarkt versammelt. Von hier aus konnten sie den Einzug Kaiser Friedrichs III . und seines Gefolges besser beobachten als von ihrem eigenen Haus am Rohr.
Trotzdem wollte Jakob nicht bei den Schwestern im Obergeschoss des Hauses am Weinmarkt stehen. Sie waren ihm viel zu albern und zu schamlos und, wie die eitlen Angehörigen des anderen Familienzweiges, deren Fuggersches Wappen ein goldenes Reh auf blauem Grund zierte, zu herausgeputzt.
Jakob, seine Geschwister und seine Mutter führten kein eigenes Wappen. Ihr Zeichen war die Weberhaspel auf dem Barchenttuch, das viele hundert Familien in und um Augsburg für sie herstellten. Das Tuch genoss in ganz Europa, von Florenz und Venedig bis zu den Städten der Hanse, von Riga bis Amsterdam, einen vorzüglichen Ruf. Es galt als ganz besonders dicht und knotenlos gewebt.
Eine der Katzen, die auf dem zu dieser Jahreszeit nicht mehr geheizten Kachelofen lagen, maunzte und reckte sich zu einem der höherliegenden, geschlossenen Fenster. Der Junge mit der Tonsur schob schmollend die Lippen vor, dann zog er kurz entschlossen einen Schemel vom Ofen bis unter das hohe Fenster und stieg hinauf. Der Rahmen mit farbigen Butzenscheiben klemmte etwas. Gleich darauf fiel das Sonnenlicht durch das geöffnete Fenster in die große obere Stube der Fugger vom Reh. Seine Mutter lächelte. Noch nie zuvor war eines der Kinder auf die Idee gekommen, durch dieses Fenster in die Welt hinauszusehen.
Jakob war als Letzter gekommen. Er hatte noch gebetet, nachdem die anderen bereits laut schnatternd losgezogen waren. Er dankte dem Allmächtigen dafür, dass die stürmischen Maitage kurz vor dem Pfingstfest des Jahres 1473 doch noch zu Ende gegangen waren und ein freundlicher Morgen über der ehrwürdigen Reichsstadt Augsburg aufstieg. Als er das Elternhaus verließ und durch die längst menschenleeren Gassen am Judenberg ging, leuchteten die kleinen Giebelhäuser so klösterlich still wie in Herrieden. Großvater Hans Fugger hatte das Haus gekauft, als der Stadtteil noch keinen guten Namen hatte. Zu jener Zeit, da man in Frankfurt die Juden in Brunnen ersäuft hatte, um ihren Wohlstand unter den Christen zu verteilen, waren sie in Augsburg »nur« aus der Stadt vertrieben worden.
Inzwischen war das Haus am Rohr seit zwei Generationen eine gute, sehr solide Anschrift für die Nachkommen Jakob Fuggers des Älteren. Im Haus der anderen Fuggerfamilie am Weinmarkt ging es viel lärmender zu. Hier herrschte der Vetter Lukas als vornehmer und weithin angesehener Kaufmann. Lukas war Mitglied im Großen Rat und Gastgeber des Kaisers. Jakob hatte schon mehrmals mit anhören müssen, wie sich die Brüder und die Mutter über seine Maßlosigkeit erregten. Nicht nur, dass er inzwischen Hochzeitsmeister und Heringsbeschauer in Augsburg war – er hatte auch die Kontrolle über den Wollhandel in der Stadt an sich gezogen und erhob zudem die Abgaben für den Barchent und einige Steuern. Es hieß, dass er zusammen mit einigen anderen Kaufleuten ein deutsches Handelshaus bei Herzog Galeazzo Sforza in Mailand eingerichtet habe. Auch die Habsburger in Österreich sollten ihm einiges Geld schulden.
»Das kann und wird nicht gut gehen«, hatte die Mutter erst vor wenigen Tagen geseufzt. »Er ist kein solider Mann wie euer Vater, sondern ein raffgieriger Mensch, der nie genug bekommt und über seine Maßlosigkeit noch tief stürzen wird.«
Jakob hatte sehr lange darüber nachgedacht, warum die Mutter, die doch elf eigene Kinder aufgezogen hatte, sich derartig um einen anderen grämte. Vielleicht war es der Kummer mit ihrem eigenen Vater, den die Augsburger eines Tages in den Schuldturm geworfen und erst nach vielen Jahren wieder freigelassen hatten – nach Jahren, in denen Jakob Fugger
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