Bewusstlos
haben nie mehr Ruhe gefunden?«
»Nein. Ich bin ruhiger geworden. Das vielleicht. Aber mein innerer Friede ist für immer fort.«
Dr. Corsini nickt. »Bitte, erzählen Sie weiter.«
Christine rauft sich die Haare. »Als die Leiche freigegeben war, haben wir hin und her überlegt, ob wir Raffael mit zur Beerdigung nehmen oder ihn lieber zu Hause lassen sollten. Und schließlich hab ich ihn ganz direkt gefragt, ob er weiß, dass seine Schwester morgen begraben wird.
Raffael hat nicht geantwortet, sondern mich nur mit großen, entsetzten Augen angesehen.
Ich hab ihn dann gefragt, ob er weiß, was da auf dem Friedhof passiert, und Raffael hat den Kopf geschüttelt.
Also hab ich ihn auf den Schoß genommen und versucht, ihm die Sache zu erklären, obwohl ich ja selbst noch nichts, wirklich gar nichts begriffen hatte.
Ich hab ihm gesagt, dass Svenja jetzt in einem Sarg liegt. In einer großen, schönen Kiste aus Holz. Aber das ist nicht die Svenja, die er kennt, die darin liegt, das ist nur ihr Körper, ihre Hülle. Ihre Seele ist längst davongeflogen, und wahrscheinlich wird sie ewig weiterleben. So genau wissen wir das ja alle nicht. Aber ich bin sicher, dass sie immer bei ihm ist. Vielleicht sogar gerade jetzt, hier in diesem Zimmer.
Raffael sah sich augenblicklich um.
›Du kannst sie nicht sehen, Raffael, nur spüren‹, sagte ich. ›Du kannst vielleicht fühlen, dass sie bei dir ist und dich beschützt. Und wenn du mit ihr sprichst, wird sie dir eine Antwort geben. Aber die hörst du nicht, du bekommst sie nur durch deine Gedanken. Verstehst du das?‹
Raffael nickte.
Es war furchtbar schwer, weil ich auf keinen Fall etwas Falsches sagen wollte.
Und dann erklärte ich ihm, dass alle Menschen sterben müssen, aber niemand weiß, wann. Die meisten sterben erst, wenn sie sehr alt sind. Und dann geht es allen Menschen so wie jetzt Svenja. Sie sind unsterblich.
Raffael war ganz ernst. Ich war mir sicher, dass er alles verstanden hatte, und hoffte, dass er dadurch ein klein wenig getröstet war.
›Möchtest du morgen mitkommen auf den Friedhof, wenn Svenjas Hülle in einem Sarg in der Erde vergraben wird?‹, hab ich ihn schließlich gefragt, und Raffael nickte.
Er wollte auf keinen Fall bei Oma oder bei Fiete bleiben.
Als ich aufstand, wollte ich wissen, ob er noch irgendeinen Wunsch hatte.
›Ich möchte tot sein‹, antwortete Raffael.
Das war der einzige Satz, den er nach Svenjas Tod sagte.
Als es so weit war, stand er zwischen uns am Grab. Unbeweglich und stumm.
Und vergoss keine Träne.
Aber als der Sarg in die Erde gelassen wurde, stieß er einen fürchterlichen Schrei aus. Es war ein Ton, der Gläser und Scheiben platzen lässt. Wie der Schrei eines Tieres, dem das Fell bei lebendigem Leib über den Kopf gezogen wird.
Noch heute wache ich nachts auf.
Von diesem einen grauenhaften, gellenden Schrei.«
»Und was war später? Ich meine, wie hat Raffael das alles verarbeitet?«
»Gar nicht. Er zog sich in sich zurück, kam nicht mehr zum Vorschein, und wir kamen nie mehr an ihn heran.
Wir hatten beide Kinder verloren.«
LILO
2
Berlin, Mai 2011
Ganz allmählich kam er zu sich, und erst nach einer Weile wurde ihm klar, dass er zu Hause in seinem Bett lag, dass der Erker dort war, wo er immer war, dass der Spiegel dort hing, wo er immer hing, und das fahle Licht des Vormittags ins Zimmer schien.
Er schloss die Augen, um sich noch einmal kurz seinen Träumen hinzugeben. Doch er schaffte es nicht, sich zu entspannen.
Irgendetwas war anders als sonst.
Irritiert fuhr er mit der Hand über seinen Körper. Und fasste in etwas Feuchtes, Klebriges.
Du lieber Himmel! Er hatte seine Sachen noch an. Das war völlig ungewohnt, denn normalerweise schlief er nackt.
Jetzt öffnete er erneut die Augen und hob den Oberkörper ein wenig an. Was er sah, brachte ihn fast um den Verstand: Vollständig angekleidet lag er in seinem Bett, und T-Shirt, Jacke und Jeans waren voller Blut. Tief durchtränkt und an manchen Stellen bereits getrocknet, hart und steif.
Fassungslos fuhr er sich mit den Händen durch die Haare und merkte zu spät, dass auch seine Hände blutverkrustet waren.
Der Ekel machte ihn fast bewegungsunfähig.
Er rührte sich nicht. Das Entsetzen saß ihm direkt in der Kehle und schnürte ihm den Atem ab. Er konnte es nicht glauben.
Schließlich riss er das T-Shirt hoch. Sein Bauch war unversehrt.
Er tastete sich hektisch ab. Hals, Brust, Bauch, Arme, fuhr mit der Hand in die Hose, bis
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