Virus - Rückkehr der Vogelgrippe (German Edition)
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Die Frau schrie. Mit verzerrtem Gesicht schrie sie aus Leibeskräften. Ihre Beine strampelten wütend die Decke vom Bett. Unkontrolliert stieß sie die geballten Fäuste in die Luft. Mit irren Verrenkungen kippte ihr Körper von einer Seite zur anderen. Die anderen Patienten blickten besorgt von ihren Betten zu ihr herüber. Plötzlich krachte ihr rechter Arm mit voller Wucht gegen das Gestell, an dem die Infusionsflasche hing. Die Flasche löste sich aus der Halterung, flog im hohen Bogen davon und riss im Fallen der Frau die Infusionsnadel aus dem Arm. Das Glas zersprang beim Aufprall, Kochsalzlösung spritzte auf den Boden. Blut floß aus der aufgerissenen Wunde.
Krentler zog seinen Mundschutz an und bedeutete dem Übersetzer, der neben ihm stand, das Gleiche zu tun.
Drei weiß gekleidete Krankenschwestern eilten herbei und versuchten mit freundlichen Worten die Frau zu beruhigen. Aber die Frau ließ sich nicht beruhigen. Sie beschimpfte die Schwestern, ihre Stimme überschlug sich. Als eine der Schwestern versuchte, den blutenden Arm zu nehmen, um die Wunde zu versorgen, schlug die Frau sie mit der Faust. Entgeistert sprang die Schwester zurück. Ihre Kollegin hatte bereits auf den Notfallknopf gedrückt.
Vom Ende des Gangs lief ein Arzt auf die Gruppe zu. Er trug einen Mundschutz und zog im Laufen eine Spritze auf. Auf seinen kurzen Wink hin traten die drei Schwestern an das Bett. Mit Gewalt drückten sie den ausgemergelten Körper der Frau nach unten, während sie ihr gleichzeitig Hände und Füße mit breiten Lederbändern ans Bettgestell fesselten. Zwei Schwestern pressten den Unterarm der Frau auf die Matratze. Der Arzt erreichte die Gruppe. Gezielt versenkte er die Nadel in einer Vene. Der verkrampfte Körper der Frau erschlaffte. Das Geschrei verstummte.
Mit starrem Blick hatte Krentler das Geschehen verfolgt. Erst jetzt merkte er, dass er geschwitzt hatte. Nach Mittag war es schwül geworden, wie jeden Tag. Obwohl er inzwischen seit zwei Wochen hier war, hatte er sich noch nicht an das feucht-heiße Klima gewöhnt.
Es war nicht allein das Klima. Er war nervös, ohne sagen zu können, warum.
Mit ruhiger Stimme hatte der Arzt die Schwestern gelobt, jetzt zog er den Mundschutz ab und wandte sich an Krentler. In perfektem Englisch erzählte er ihm die Geschichte der Frau, die drei Tage zuvor eingeliefert worden war.
Sie stammte aus einem kleinen Dorf in der Provinz Guangdong, nicht weit von Hong-Kong entfernt, in dem vor einer Woche einige Fälle von Vogelgrippe im Hausgeflügel bestätigt worden waren. Man hatte das Gebiet zur Sperrzone erklärt und das gesamte Geflügel geschlachtet. Die Bewohner, viele lebten von ihren Hühnern, hatten lautstark gegen die Schlachtungen protestiert. Aber das Militär hatte jeden Widerstand verhindert und selbst die gut versteckten Kampfhähne – meist der wertvollste Besitz und ganze Stolz seines Eigentümers – aufgespürt und getötet. Man wollte kein Risiko eingehen. Nur wenige Kilometer entfernt befand sich eine große Geflügelfarm mit hunderttausend Tieren. Täglich wurde hier tonnenweise Fleisch produziert und in die ganze Welt exportiert. Eine Ansteckung hätte verheerende Folgen gehabt.
Die Frau war mit Symptomen der Grippe eingeliefert worden. Schon am nächsten Tag wurde die Diagnose bestätigt: Influenza, Typ H5N1/Asia. Vogelgrippe. Die schnelle Diagnose gab Grund zur Hoffnung. Die Krankheit war noch nicht sehr weit fortgeschritten. Mit den richtigen Medikamenten würde man den Krankheitsverlauf positiv beeinflussen können.
Im Nachbarbett lag ihre Tochter. Während des hysterischen Anfalls der Mutter hatte sie leise geschluchzt. Ihr Name war Sing. Mit ihren großen, braunen Augen war sie sofort zum Liebling aller Schwestern geworden. Sing war zusammen mit ihren Geschwistern gleich nach ihrer Mutter ins Krankenhaus gebracht worden. Man stellte alle unter Beobachtung, um eine Ansteckung auszuschließen. Die Geschwister waren kurze Zeit später wieder entlassen worden, aber bei Sing zeigten sich Symptome der Krankheit. Sie begann, trocken zu husten, sie bekam Fieber. Am zweiten Tag verschlechterte sich ihr Zustand rapide. Der Husten wurde schlimmer. Ihre Körpertemperatur stieg auf 40 Grad.
Dazu kamen die Anfälle der Mutter. Schon bei ihrer Ankunft im Krankenhaus war sie hysterisch gewesen und hatte behauptet, mit keinem der kranken Vögel in Kontakt gekommen zu sein. Zum fraglichen Zeitpunkt sei sie verreist gewesen. Einige Dorfbewohner hatten das
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