Biest: Thriller (German Edition)
Milliarde? In der Nähe des Präsidenten saßen Männer, deren Spesenkonto ähnlich viele Nullen aufwies wie sein gesamtes Investment-Portfolio. Als ihr Gastgeber endlich an sein Glas klopfte und ihn damit aus seinen selbstzerstörerischen Gedanken riss, tätschelte er als eine Geste des guten Willens den Saum des Kleids seiner Frau, sie lächelte ein wenig versonnen und ein wenig verächtlich. Ihr Tisch hatte kaum die erste Schicht des Kaviarbergs auf dem großen Tablett abgetragen, als ein alter Bekannter, der deutlich näher beim Präsidenten saß, unvermittelt aufstand und das Glas erhob: »Auf ein starkes Russland!«, prostete er in die Runde. Gelangweilt schloss er sich dem Prosit an. Offenbar führten sie einige Tische weiter eine deutlich interessantere Unterhaltung. Es war offensichtlich, dass der Trinkspruch für alle anderen aus dem Zusammenhang gerissen war.
»Meine lieben Freunde«, hallte plötzlich die kräftige Stimme des Präsidenten durch den Saal. »Wo er recht hat, hat er recht. Aber lassen Sie mich Ihnen ein Geheimnis verraten.« Wie immer klang seine Stimme nüchterner als die der anderen. Er hatte diese Symbiose eigens geschaffen, der Reichtum der smarten jungen Männer war sein Teil ihrer stillen Abmachung, die im Gegenzug unbedingte politische Loyalität verlangte. Diejenigen von ihnen, die sich gegen ihn gewandt hatten saßen im Gefängnis, wegen Steuerhinterziehung oder Hochverrats.
»Die Stärke Russlands ist heute mehr denn je in Gefahr. Der russische Bär ist müde geworden über die Jahre, der Hunger macht ihm zu schaffen, und die Einnahmen aus der Schaustellerei, die sich Weltzirkus nennt, sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren.« Er lachte laut, während sich der Rest des Tisches betreten abwendete. Dabei hatte er natürlich recht. Er sprach nur aus, was die dekadenten Milliardäre am Tisch angesichts ihres eigenen Luxuslebens nicht mehr interessierte. Politisch und volkswirtschaftlich steuerte Russland auf die Bedeutungslosigkeit zu. In dem Maße, in dem die Rohstoffe an Wichtigkeit verloren, schwand die Zukunftsfähigkeit ihres Landes. »Das Einzige«, fuhr ihr Gastgeber fort, »das Einzige, was Russland wirklich helfen würde, wären explodierende Rohstoffpreise. Unsere einzige Rettung ist noch immer dieses wunderbare Land.«
Was meint er damit?, fragte sich das Biest. Er sollte es in der nächsten Sekunde erfahren, und diese Sekunde würde sein Leben verändern, obwohl er das zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnte. Denn der alte und nach einem beispiellosen Coup auch der nächste Präsident des Landes fuhr fort: »Ich bitte euch, darüber nachzudenken bei euren Geschäften und Transaktionen«, skandierte er wie bei einer launigen Rede zu einem dieser lächerlichen amerikanischen Charity-Dinner, »wie können wir sie dazu bringen, uns mehr für unsere wertvollen Güter zu bezahlen? Egal, mit welchen Mitteln.« Er lachte laut. »Auf unser wunderbares Land, meine Freunde.« Dazu streckte er das halb volle Wodkaglas vors Gesicht. Erst waren es nur vereinzelte Lacher, aber je mehr der Anwesenden die gelungene Mischung aus Scherz und aberwitziger Wahrheit bewusst wurde, desto mehr stimmten ein. Alle leerten ihre Gläser in einem Zug, und der Präsident lachte selbstzufrieden in die Runde. Das Biest hatte das Gefühl, dass sein Blick eine halbe Sekunde länger an seinen Augen kleben blieb als an allen anderen. Egal, mit welchen Mitteln? Er hatte doch nur einen Scherz gemacht, oder nicht? Er zog mit dem Messer eine Linie in den Berg aus Kaviar auf seinem Teller und zerschnitt abwesend einen der köstlichen Blini, den nächsten Trinkspruch hörte er kaum. Der brillante Verstand des Biests hatte angefangen zu arbeiten.
TEIL 1
Man muss wissen, dass es zwei Arten zu kämpfen gibt, die eine nach Gesetzen, die andere durch Gewalt; die erste ist die Sitte der Menschen, die andere die der Tiere. Da jedoch die erste oft nicht ausreicht, so muss man seine Zuflucht zur zweiten nehmen. Ein Fürst muss daher sowohl den Menschen wie die Bestie zu spielen wissen.
Niccolò Machiavelli
Der Fürst
1513
KAPITEL 1
Amsterdam, Niederlande
03. September 2012, 21.23 Uhr (drei Monate später)
Solveigh Lang lag rücklings auf der sehr unbequemen Chaiselongue in ihrem Wohnzimmer und versuchte, ein Buch zu lesen. Genauer gesagt versuchte sie, einen Western zu lesen, was sie zum einen noch niemals in ihrem Leben getan hatte und was ihr zum anderen auch niemals eingefallen wäre, hätte die
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