Kammerflimmern
Dienstag, 4. Mai 2010
8.47 Uhr
Universitätskrankenhaus Grini (GRUS), Bærum bei Oslo, Norwegen
Als Dr. Sara Zuckerman den Patienten im hellblauen verwaschenen Operationshemd sah, blieb sie abrupt stehen. Sie lächelte, um den Schrecken zu überspielen. Das war unnötig, denn noch hatte er sie nicht gesehen.
Die OP-Schwester half dem Patienten von der fahrbaren Liege auf den Operationstisch. Der Kranke bewegte sich steif, als hätte er am Vortag in aller Stille nicht seinen siebzigsten, sondern einen weit höheren Geburtstag begangen. Das Hemd schlotterte um seine Glieder und ließ ihn so verletzlich wirken, dass Dr. Zuckerman noch immer zögerte. Als er den Kopf senkte, um sich zurechtzusetzen, sah sie unter der sterilen Haube verfilzte Haare wie kleine Pfeile auf seine mageren Schulterblätter zeigen.
Ein Greisengesicht, das sie nicht wiedererkannte.
Sie hielt den Atem an und spürte, wie ihr Puls schneller wurde.
Hier lief etwas schief.
In diesem Moment müsste ein anderer in der Tür zu OP 7 stehen. Einer der anderen Kardiologen könnte den Eingriff ebenso gut ausführen. Besser, dachte sie, auch wenn niemand ihre Erfahrung besaß. Niemand hatte ihre Erfolgsgeschichte, ihre Kenntnisse, ihr Ansehen. Sie war ein Star, ein Superstar an einem Himmel, der größer war als der über Norwegen, über Bærum, über dem kleinen Krankenhaus, das sich in keiner Weise mit dem Ort messen konnte, in dem sie einmal zu Hause gewesen war.
Aber es lief hier etwas schief.
Sie hätte ablehnen müssen.
Sie hatte abgelehnt.
Prof. em. Dr. med. Erik Berntsen, ein Menschenalter hindurch Nestor der nordischen Elektrophysiologie, hatte seinen Willen durchgesetzt.
»Guten Morgen«, sagte Sara Zuckerman eine Spur zu laut und zu munter.
In wenigen Minuten würde sie eine Operation durchführen, die, obwohl es sich um einen Routineeingriff handelte, durchaus das Leben des Patienten fordern könnte. Und das wusste niemand besser als der Patient selbst.
Er wandte ihr das Gesicht zu.
Natürlich war alles in Ordnung. »Einer Kapazität wie dir brauche ich ja nicht zu erklären, was hier geschehen wird«, sagte Sara Zuckerman. »Aber aus Rücksicht auf unsere PJlerin Karita Solheim ...«
Sie nickte zu einer jüngeren Frau hinüber, Medizinstudentin im Praktischen Jahr, die aussah, als sollte sie eine Hinrichtung überwachen.
»... machen wir es wie sonst auch.«
Noch immer fiel es Sara schwer, dem Patienten in die Augen zu schauen. Die waren gelbbraun, das wusste sie, und ungewöhnlich groß. Sie lagen tief in den Höhlen, unter schwarzen Augenbrauen mit einzelnen grauen steiferen Haaren. Sie kannte seinen Blick gut; selbstbewusst, stark und mit einem Hauch der Arroganz, die sie früher für fachliche Stärke gehalten hatte. Er war ein Einzelgänger, ein Ausnahmewissenschaftler wie die, an die sie gewöhnt war und mit denen sie zu tun gehabt hatte, ehe sie nach Norwegen zurückgekehrt war. Was sie sich nie gewünscht hatte und was sie sich nicht einmal hatte vorstellen können. 2002, als das Unglück geschehen war und sie nach Hause fahren musste, war Norwegen nur eine vage und unliebsame Erinnerung an eine Jugendzeit.
Erik Berntsen wäre überall auf der Welt einzigartig gewesen.
Ihn so hilflos zu sehen tat ihr geradezu physisch weh.
»Ursache der Einweisung«, sagte Sara Zuckerman mechanisch, »ist eine Ventrikeltachykardie und Synkope vor zwei Wochen. Die Implantation eines ICD vom Typus Mercury Deimos wird plangemäß ungefähr eine Stunde dauern.«
Sie und der Patient wussten, dass kaum jemand in Norwegen solches Glück hatte wie er. Die medizinischen Bedingungen für die Zuteilung eines ICD, eines Herzstarters, der die Steuerzahler an die 100 000 Kronen kostete, waren im reichen Norwegen strenger als in anderen Ländern Europas.
»Wie du selbst am besten weißt ...«, sagte sie jetzt.
Und sah ihm wieder ins Gesicht. Sein Kopf wirkte zu groß für den dünnen Hals. Sie ertappte sich bei dem Wunsch, seine Wange zu streicheln.
»... ist mit jedem operativen Eingriff ein gewisses Risiko verbunden. Die häufigste Komplikation ist ein Pneumothorax. Seltener kommt es zur Tamponade, bei der sich der Herzbeutel mit Blut füllt. Das kann zu einem kritischen Zustand führen, der ...«
Zum ersten Mal, seit er in den OP gebracht worden war, lächelte Erik Berntsen. Eine freudlose, leicht herablassende Grimasse.
»Tut mir leid«, rief sie. »Ich vergesse ganz, mit wem ich rede.«
Sie merkte, dass sie noch immer zu
Weitere Kostenlose Bücher